Spiegel-Leser wissen mehr oder zumindest alles besser

Vergangenes Wochenende vermeldete die Online-Ausgabe des Spiegels die Verhaftung einer jungen Frau, die in einem Mannheimer Kino den Film Wolverine – Weg des Kriegers mit einer Videokamera abgefilmt hatte. Der Festnahme gingen offenbar mehrmonatige Ermittlungen voraus und richteten sich gegen eine Gruppe von Tätern, die Raubkopien von mindestens vier Filmen beschafft und ins Netz gestellt hatte.

An und für sich wäre diese Meldung nicht weiter bemerkenswert. Es ist gut, dass der Täterin bzw. den Tätern das Handwerk gelegt wird, aber jeder weiß, dass dies nur die sprichwörtlichen kleinen Fische sind, die man gefangen hat, und sich die Zahl der Raubkopien im Netz dadurch nicht wesentlich verringert wird. Interessant finde ich jedoch die Leserkommentare dazu. Ich habe nicht alle der weit über zweihundert Kommentare gelesen, würde jedoch schätzen, dass zwei Drittel davon keinerlei Probleme mit Raubkopien im Netz haben und diese zum Teil sogar befürworten.

Die meisten empfinden das Erstellen und Verbreiten von Raubkopien als Bagatelldelikt, den man gar nicht ahnden sollte, schließlich sei der entstandene Schaden kleiner als der Aufwand, den man betreibt, um die Täter zu ergreifen. Außerdem gebe es genug „richtige“ Verbrechen, die man aufklären sollte. Immerhin konterte daraufhin einer der gesetzestreuen Minderheit, dass man mit demselben Argument auch niemanden mehr wegen überhöhter Geschwindigkeit oder Taschendiebstahl zur Verantwortung ziehen sollte, da die Polizeiarbeit in diesen Fällen auch teurer kommt.

Ein paar Leser empörten sich auch darüber, dass die GVU unschuldige Kinobesucher, die nicht mitfilmen, heimlich überwachen. Deshalb sollte man diese Kino-Stasi anzeigen.

Es gab auch ein paar amüsante Bemerkungen wie diese: Leute, die einen Film illegal im Netz sehen, gehen häufig danach ins Kino, um ihn in guter Qualität auf der großen Leinwand zu erleben. Im Netz wird also erst einmal „probegeguckt“, um zu sehen, ob der Film auch was taugt. Das ist ungefähr so, als würde ich in einem Restaurant gemütlich essen und anschließend, falls es mir nicht geschmeckt hat, die Zeche prellen.

Sehr beliebt ist auch diese Variante desselben Arguments, bei dem der Spieß umgedreht und das Opfer zum Täter erklärt wird (ohnehin ein gängiger Zeitvertreib dieser Tage): Die gierige Filmindustrie produziert jede Menge Schrott, mit dem sie uns abzockt. Daher sei es legitim, sich im Internet zuerst über die Qualität zu informieren und sich im Kino dann nur die guten Filme anzuschauen. Ja, genau aus dem Grund laden sich auch Leute ganze CDs runter, um dann online einzelne Songs zu kaufen, die ihnen besonders gut gefallen haben.

Einige verstehen die Aufregung nicht, denn „niemand ist ein Schaden entstanden“. Mit der Filmindustrie trifft es ja auch keinen Armen, zudem wird sie schon nicht pleite gehen, weil eine Frau in Mannheim einen Film aufnimmt. Außerdem würden zur selben Zeit noch zig andere Leute dasselbe tun. Vielleicht kann man das mit dem Schwarzfahren vergleichen: Ein Schwarzfahrer allein verursacht keinen großen Schaden, aber viele Tausend oder Millionen schon.

Am putzigsten fand ich diese Antwort: Weil die Preise für Kino, DVD etc. so hoch sind, ist das Anfertigen und Abrufen von Raubkopien im Internet praktisch Notwehr. Über zu hohe Preise (sowohl beim Eintritt als auch an den Theken) beschwerten sich viele andere Leser auch, allerdings ohne gleich ihre körperliche oder geistige Unversehrtheit in Frage zu stellen. Hier gäbe es sicherlich einen Ansatz, um mehr Zuschauer in die Kinos locken zu können. Es würde am Anfang vielleicht schon reichen, den 3-D-Zuschlag abzuschaffen, aber das ist vermutlich wie mit der Sektsteuer, die Kaiser Wilhelm eingeführt hat, um seine Flotte zu finanzieren. Weder Kaiser noch Flotte existieren noch, die Steuer aber schon…

Kurzfristig ist das Problem leider nicht so einfach zu lösen. Raubkopien gibt es ja nicht erst seit dem Internet-Zeitalter. Ich kann mich noch an Kopien von Videokassetten erinnern, die im Freundeskreis kursierten. Und die Qualität war nicht besser als die von im Kinosaal abgefilmten Produktionen. Das Problem sind auch weniger die Piraten im Kinosaal, die unsagbar miese Kopien mitschneiden, sondern Raubkopien aus dem Umfeld der Produzenten oder Verleiher, durch die Filme teilweise schon vor der Premiere im Netz zu finden sind. Das ist leider die Kehrseite der Digitalisierung: Hervorragende Kopien sind leicht anzufertigen und zu verbreiten. Was früher ein mühsamer Prozess war, ist heute mit ein paar Klicks erledigt.

Interessant fand ich bei den Kommentaren vor allem die Haltung mancher Leser zum Umgang mit dem geistigen Eigentum anderer bzw. das Anspruchsdenken, das viele an den Tag legen. Here we are now entertain us, hieß es schon bei Nirwana, und irgendwie scheint es das Motto vieler jüngerer Leute zu sein, die mit dem Internet quasi aufgewachsen sind. Was im Netz steht, muss auch umsonst sein, so lautet die weit verbreitete Meinung. Von diesem Denken müssen wir uns lösen, sonst wird das unweigerlich dazu führen, dass es weniger und schlechtere Angebote geben wird.

Das Konsumverhalten der Gesellschaft verändert sich. Viele Menschen wollen nicht mehr ins Kino gehen, sei es, weil es ihnen zu teuer oder zu umständlich ist, weil sie sich von ihren Sitznachbarn gestört fühlen oder sich nicht durch feste Uhrzeiten vorschreiben lassen wollen, wann sie sich einen Film anschauen. Das ist sicherlich ein Grund dafür, dass sich viele Leute einen Film illegal runterladen, selbst wenn sie sich die Kinokarte leisten könnten.

Das Zauberwort heißt streaming und meint, dass jeder sein eigener Programmdirektor wird. Eine Lösung des Problems, so auch die Meinung vieler Spiegel-Leser, sei es daher, mehr Filme zeitgleich mit der Kinopremiere auch gegen Bezahlung im Internet zu zeigen. Und der Name des Messias ist Netflix.

Vermutlich denkt Netflix schon über eine Expansion nach Deutschland nach, und andere Anbieter stehen ebenfalls in den Startlöchern. Die Veränderung kommt, und sie wird auch die Kinolandschaft revolutionieren. Wenn ich eine Glaskugel hätte, würde ich jetzt eine Prognose abgeben, aber das kann ich leider nicht. Vielleicht wird es mehr Luxus-Kinos geben, in denen die Karte vierzig Euro kosten, man dafür aber einen besonderen Abend erlebt: Man sitzt bequem, bekommt Popcorn und Getränke (und in einigen Monaten vielleicht auch die DVD) kostenlos und betrachtet den Film auf einer Riesenleinwand, gegen die selbst der größte Fernseher popelig wirkt. In den USA gibt es solche Theater bereits, und manche Kinos in Deutschland gehen in dieselbe oder eine ähnliche Richtung.

Vielleicht wird es daneben auch ein Discount-Kino geben, das billigen Eintritt bietet und sich durch die Masse der Besucher rechnet. Denn Kino ist nun mal auch ein Gemeinschaftserlebnis und ein kleiner Bildschirm keine Konkurrenz für die große Leinwand.

Ich denke, wenn wir so weitermachen wie bisher, werden vor allem die Kinos darunter zu leiden haben. Bei dem großen Angebot an Filmen und den hohen Preisen muss man sich heute schon genau überlegen, wofür man sein Geld ausgibt. Ich gehe inzwischen auch weniger ins Kino als früher, was nur teilweise an meiner knappen Freizeit liegt, und boykottiere weitgehend 3-D-Filme (meine Halbjahresbilanz folgt die Tage).

Allerdings bin ich auch der Meinung, dass man nicht alles sehen muss (vielleicht ein Vorzug, den einem das Alter gewährt). Ein Spiegel-Leser meinte in seinem Kommentar, dass Leute, die ständig ins Kino gehen bzw. alle neuen Filme sehen wollen, süchtig seien, weshalb der Staat jegliche Werbung für Kinofilme verbieten solle. Wahrlich eine tolle Idee – am besten sollte man dann auch gleich das Fernsehen verbieten, damit die Süchtigen nicht noch stärker in die Abhängigkeitsspirale geraten…

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.