Eine überraschende Wahl

Im Flugzeug oder im Zug ist es unvermeidlich, dass man das eine oder andere von seinen Mitreisenden mitbekommt. Vor einiger Zeit diskutierte ein junger Mann lautstark am Handy seine diversen juristischen Probleme – und der gesamte Waggon wurde Zeuge davon. Oder ein anderer Mann musste eine Freundin trösten, die sich in eine unangenehme Lage gebracht hatte: „Wie bist du nur auf diesen dünnen Ast gekommen?“ Das kann unglaublich nerven, hin und wieder ist es aber auch ganz lustig.

Auf dem Rückflug von L.A. saß ein nicht mehr ganz so junger Mann in der Reihe vor mir, vom Typ her – braungebrannt, durchtrainiert und modebewusst – entweder Fitnesstrainer oder Pornodarsteller, und als er das Entertainmentprogramm startete, fragte ich mich unwillkürlich, welchen Film er sich wohl anschauen würde. Sein Bildschirm befand sich genau in meiner Blickrichtung, und ich tippte auf einen Science Fiction oder einen knackigen Actionstreifen. Doch als ich einige Zeit später wieder aufsah, war ich völlig überrascht, denn er schaute:

Cinderella

Ella (Lily James) wächst behütet als Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns (Ben Chaplin) auf. Nach dem frühen Tod der Mutter (Hayley Atwell) heiratet ihr Vater erneut, doch schon bald segnet auch er das Zeitliche und Ella ist allein mit ihrer Stiefmutter (Cate Blanchett) und ihren fiesen Stiefschwestern (Sophie McShera und Holliday Grainger). Doch dann lernt sie im Wald den Prinzen (Richard Madden) kennen …

Wenn du gut und freundlich und duldsam und brav bist, wirst du irgendwann einmal belohnt werden, lautet die Botschaft der meisten Märchen. Im Film heißt es, man solle mutig und freundlich sein, und ganz am Ende macht Ella wenigstens einmal den Mund auf und sagt dem Miststück von Stiefmutter die Meinung. Andere hätten das Biest vermutlich schon lange vorher vergiftet und die beiden Stiefschwestern gleich mit dazu, aber da dies kein Tarantino-Film ist, sondern die Disney-Version der französischen Aschenputtel-Variante, gibt es stattdessen eine gute Fee, gespielt von Helena Bonham Carter, die dafür sorgt, dass sogar eine junge Frau, die sich von ihrer Familie wie ein Fußabtreter behandeln lässt, ohne auch nur einen Hauch jugendlicher Rebellion zu zeigen, am Ende ihren Prinzen findet.

Kenneth Branagh hat Regie geführt, was eine Überraschung ist, andererseits hat er auch schon Thor inszeniert, was ebenfalls nicht die Art von Film ist, die man von einem Shakespeare-Mann erwartet. Vermutlich waren deshalb fast alle Darsteller britischer (oder zumindest schottischer oder australischer) Herkunft, und vielleicht erklärt das auch, warum einige so gruselige, viel zu stark gebleichte Zähne haben. Briten und ihre Zähne, auch das ist eine lange Geschichte.

Von Disney kam dagegen vermutlich die Anweisung, alles ein wenig üppiger als gewöhnlich zu gestalten, was zu einem wahren Farbenrausch geführt hat und einer Ausstattungsorgie, die ihresgleichen sucht. Mehr ist mehr, und britisches Understatement war gestern. Um die Ecke gedacht, könnte man das durchaus als Kritik an der britischen Regierung verstehen, die seit Jahrzehnten alles tut, um russische Oligarchen und andere Neureiche ins Land zu locken, damit diese Steuern sparen und ihr Geld für geschmacklose Dekorationen ausgeben können. Aber vermutlich wäre das überinterpretiert.

Merkwürdig, sogar irritierend ist auch, dass Cate Blanchett wie die Heldin eines klassischen Melodrams oder Film Noirs abgelichtet wurde. Die Hüte, ihre Frisur, die Kleider und nicht zuletzt die Beleuchtung mit den starken Schatten lassen an Joan Crawford oder Lauren Bacall denken und passen nicht so recht zum Disney-Charme.

In der Tat sind die Kostüme überaus prachtvoll geworden, manche sehen dabei sogar gut aus, und selbst die extravaganten, gläsernen Pumps werden mit einem „Warum nicht?“ erklärt, als wäre Cinderella eine bloggende Fashonista. Übers Ziel hinausgeschossen ist die Kostümabteilung eigentlich nur bei den Outfits der Stiefschwestern und der guten Fee. Der Film erinnert mit seiner Mode, Ausstattung und Dekor an ein fiktives 19. Jahrhundert, das kräftig disneyfiziert wurde, aber einige kleinere Anspielungen politischer Natur findet man auch, wenn man die Zwischentöne liest. Der Rest ist Operette und ein Hohelied des Kitsches.

Verkitscht wurden auch die Dialoge, bei denen man manchmal vor Lachen aus dem Kinosessel fallen könnte, so platt und dämlich klingen sie – und dennoch kann man sich dem Zauber dieser Geschichte nicht entziehen. Märchen sind eben zeitlos und selbst durch eine Überdosis Zuckerguss nicht totzukriegen.

Die Begeisterungsstürme sind zwar nicht ganz nachvollziehbar, aber eine farbenprächtige, unterhaltsame Wohlfühl-Geschichte ist es allemal.

Note: 3

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.