Rebecca

Immer an Neujahr treffen wir uns mit Familie und Freunden, um den ganzen Tag lang alte Filme zu sehen, darüber zu diskutieren – und jede Menge zu essen. Eine geistige und kulinarische Völlerei, wenn man so will, bevor man sich wieder an seine guten Vorsätze fürs neue Jahr erinnert.

Jedes Mal fördert dieses Treffen überraschende Kenntnisse zutage. Manche „sperrige“ Filme oder Produktionen, die sehr dem damaligen Zeitgeist verhaftet sind, kommen erstaunlich gut an (Harold and Maude oder Love Story zum Beispiel), dafür werden manche Komödien als altbacken betrachtet (Is‘ was, Doc?). Alte Filme und vor allem alles, was schwarz-weiß ist, hat so gut wie keine Chance mehr und wird nur noch im Hinblick auf die unfreiwillige Komik hin konsumiert. Fast könnte man meinen, dass man die Meisterwerke der Filmgeschichte vor 1990 nahezu komplett entsorgen könnte, es würde ohnehin keinem auffallen.

Vor allem Hitchcock kommt erstaunlich schlecht weg, wobei wir uns noch nicht seinen berühmtesten Filmen gewidmet haben. Eine Dame verschwindet galt den jüngeren Leuten unter den Zuschauern als langweilig, der Look in Die Vögel wurde als unrealistisch kritisiert, obwohl der Film insgesamt eher positiv aufgenommen wurde, aber Rebecca kam schlecht weg. Vor allem wurden hier wie auch schon früher in Bus Stop der unverhohlene Sexismus und die chauvinistischen Sprüche beklagt, über die man heute eher lachen kann.

Immerhin Eins, zwei, drei und Leoparden küsst man nicht, wurden fast schon begeistert aufgenommen, letzterer galt den jungen Zuschauern sogar als viel zu schnell! Dafür fielen neuere Meisterwerke wie Brazil und Amadeus komplett durch und wurden als langweilig abgestempelt. Am schlimmsten erwischte es jedoch Feld der Träume, der einhellig von allen gehasst wurde.

Für mich als Filmliebhaber ist das mitunter eine schmerzhafte Erfahrung, vor allem wenn das harsche Urteil meine Lieblingsfilme trifft. In solchen Momenten möchte man am liebsten sofort das Weite suchen und in Zukunft nie wieder eine derartige Veranstaltung organisieren. Man fühlt sich dann ein bisschen wie ein Großvater, der vom Krieg als der guten alten Zeit schwärmt und gar nicht merkt, wie peinlich das ist, was er von sich gibt.

Aber spätestens zu Silvester beginnt man wieder zu hoffen, dass die neue Filmauswahl eher den Geschmack der jüngeren Generation treffen wird, dass sie zu verstehen beginnt, dass wir alle auf den Schultern von Giganten stehen und Erzählmuster heutiger Filme ihre Wurzeln in früheren Werken haben oder bestimmte Plotwendungen, die heute als klischeehaft gelten, vor langer Zeit mal innovativ waren.

Passend dazu heute und an den beiden Folgetagen meine Beurteilungen zu den diesjährigen Filmen.

Rebecca

Maxim de Winter (Lawrence Olivier) hat vor einem Jahr seine Frau Rebecca verloren und reist seither durch Europa, um der Vergangenheit zu entfliehen. In Monte Carlo trifft er eine scheue, junge Frau (Joan Fontaine), die sich als Gesellschafterin verdingt, und heiratet sie überstürzt. Mit ihr kehrt er in seinen herrschaftlichen Stammsitz Manderlay in Cornwall zurück, wo der Geist Rebeccas immer noch sehr präsent ist – vor allem dank der düsteren, einschüchternden Hausdame Mrs. Danvers (Judith Anderson).

Daphne du Maurier, aus deren Feder der gleichnamige Roman stammt, auf dem der Film basiert, war eine überaus erfolgreiche Schriftstellerin, die auch die Vorlagen zu Die Vögel, Wenn die Gondeln Trauer tragen und Gasthaus Jamaica geliefert hat. Sie lebte in Cornwall, wo die meisten ihrer Geschichten spielen, in einem Haus, das als Vorbild von Manderlay galt. Auch die unterdrückten lesbischen Gefühle, die Mrs. Danvers der verstorbenen Rebecca entgegenbringt und die die Geschichte wie eine dunkle, unheilvolle Strömung durchziehen, sollen ihr nicht fremd gewesen sein. Der Rest ist wohl allein ihrer Fantasie entsprungen.

Die Geschichte fasziniert auch heute noch wegen ihrer psychologischen Genauigkeit. Manche Charakterzüge erscheinen vielleicht überzogen, vor allem die furchtbar bevormundende und herablassende Art, mit der Maxim seine junge Frau behandelt, stößt inzwischen auf Ablehnung und wirkt in ihrer Plumpheit unfreiwillig komisch, ist aber ihrer Zeit geschuldet. Dennoch kann man die Figuren gut verstehen, den Witwer, der seiner Vergangenheit zu entfliehen versucht, weil die Erinnerung an sie unerträglich ist, die junge Frau, die schmerzhaft schüchtern versucht, einen Platz in der Welt zu finden, die über keinerlei Selbstbewusstsein verfügt und sich deshalb nur zu bereitwillig herumschubsen lässt, oder sogar Mrs. Danvers. Letztere gehört zu den ikonischen Bösewichtern der Filmgeschichte und ist – wie die besten von ihnen – in ihrem Kern eine tragische Figur. Interessanterweise hat Hitchcock ihr als Regieanweisung mitgegeben, möglichst wenig zu blinzeln, um besonders kalt und gefühllos zu wirken, ein Trick, den später Anthony Hopkins für seine Darstellung des Hannibal Lector ebenfalls anwandte …

Vieles ist großartig geschildert, manches sogar meisterhaft. Zu den genialsten Einfällen zählt, dass die Hauptfigur, mit der wir uns schnell identifizieren, nicht einmal einen eigenen Namen besitzt, sie ist nur „die zweite Mrs. de Winter“ – und hat große Mühe, sich selbst an ihre neue Identität zu gewöhnen. In einer bezeichnenden Szene verweist sie einen Anrufer auf die Tatsache, dass die Herrin von Manderlay verstorben ist, und vergisst dabei ihre eigene Position. Mehr Schwäche, Unterwürfigkeit und Selbstverleugnung hat es kaum im Kino gegeben. Sie muss sich unentwegt an ihrer Vorgängerin messen, die man niemals sieht, von der alle aber schwärmen als wäre sie eine leibhaftige Göttin.

Besonders Mrs. Danvers treibt diese Verehrung über den Tod hinaus auf die Spitze, indem sie die Räume ihrer einstigen Herrin wie ein Museum behandelt und die Verstorbene wie eine Heilige verehrt. Rebecca dominiert diesen Film, es ist über weite Strecken ihre Geschichte, die sich nach und nach entfaltet, in der man zusammen mit ihrem Witwer und seiner neuen Frau ihr wahres Gesicht entdeckt. Dabei erzählt Hitchcock ihren Fall wie einen Krimi, der er in gewisser Weise auch ist, deckt immer neue Rätsel und Geheimnisse auf, die sich um ihren vermeidlichen Unfalltod ranken und sorgt bis zuletzt für immer neue Wendungen, auch wenn das abgründige Ende der Romanvorlage leider dem Moralkodex Hollywoods zum Opfer fiel.

Sicher, die Sehgewohnheiten haben sich im Laufe der Zeit verändert, der Film ist relativ langsam, manche Verhaltensweise wirken, wie gesagt, erheiternd oder verstörend, und seine Melodramatik, die von der Musik geradezu aufdringlich auf die Spitze getrieben wird, ist bisweilen schwer zu ertragen, aber trotz all dieser Mankos ist Rebecca, der den Oscar als bester Film erhielt, auch über fünfundsiebzig Jahre später immer noch eine verdammt gute Geschichte.

Note: 2

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.