Die Erfindung der Wahrheit

Die amerikanische Politik ist im Augenblick sehr spannend. Natürlich liegt das in erster Linie an dem orangenen Riesenbaby, das seit anderthalb Jahren Washington und den Rest der Welt mit seinen Lügen und aberwitzigen Kapriolen in Atem hält, aber auch innenpolitisch geht es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten hoch her. Sei es die Immigrationspolitik, zunehmende rassistische Feindseligkeiten oder immer wiederkehrende Amokläufe – jedes Thema für sich genommen birgt genügend Sprengkraft, um damit etliche Filme und Serien zu bestreiten.

Die Amerikaner haben sich schon immer mit ihrer Geschichte und ihrer Politik auseinandergesetzt und sie für ihre filmischen Erzählungen genutzt. Und wir Zuschauer diesseits des großen Teichs haben sie ebenso goutiert wie die Amerikaner selbst. Wir wissen, wie amerikanische Politik gemacht wird, wie die Geheimdienste, Redaktionen und Gerichte arbeiten. Und hin und wieder sind dabei außerordentlich gute Filme und Serien entstanden. Eines der jüngsten Beispiele ist:

Die Erfindung der Wahrheit

Madeline Elizabeth Sloane (Jessica Chastain) ist eine mit allen Wassern gewaschene Lobbyistin in Washington, die allein für ihre Karriere lebt. Weil sie rund um die Uhr arbeitet, braucht sie eine Menge Tabletten, um zu funktionieren, und hat selbst für die Liebe keine Zeit. Ihre Bedürfnisse stillt von Zeit zu Zeit ein Callboy (Jake Lacy), aber wirkliche Nähe kann Miss Sloane nicht ertragen. Als der Boss der mächtigen Waffenlobby sie engagieren will, um einen Gesetzentwurf zur Regulierung von Schusswaffen zu bekämpfen, schlägt sie das Angebot aus und sich selbst auf die Seite der Gegner. Von ihrem Boss (Sam Waterston) gefeuert, arbeitet sie mit Rudolfo Schmidt (Mark Strong) daran, den Gesetzentwurf durchzubringen, koste es, was es wolle. Doch ihre Gegner schrecken vor nichts zurück, um sie zu vernichten …

Politik, man hört es oft genug, ist ein schmutziges Geschäft, von dessen Ausmaß an Bösartigkeit man erst dann ein Bild bekommt, wenn man sich einmal näher mit einem Politiker darüber unterhält. Miss Sloane, so auch der Originaltitel des Films von John Madden, der perfekt die Unnahbarkeit der Figur widerspiegelt, ist eine Meisterin ihres Fachs. Sie balanciert stets an der Grenze der Legalität, setzt ihre Gegner unter Druck, treibt sie vor sich her und ist ihnen selbst dann einen Schritt voraus, wenn diese zum Gegenschlag ansetzen. Sehr bald gerät sie erwartungsgemäß selbst ins Fadenkreuz der mächtigsten Lobbyvereinigung, die nichts unversucht lässt, die eiserne Lady zu diskreditieren und öffentlich fertig zu machen.

Drehbuchautor Jonathan Perera zeichnet ein bemerkenswertes Psychogramm einer Frau ohne Emotionen. Während ihre Mitstreiter leidenschaftlich gegen die allgegenwärtige Waffengewalt ins Feld ziehen, zum Teil weil sie selbst einmal Opfer oder Zeuge eines Amoklaufs waren, kämpft Miss Sloane vor allem, weil sie mit einem Sieg den Höhepunkt ihrer Karriere erreichen würde. Diesem Ehrgeiz ist sie bereit, alles zu opfern, sogar ihre wenigen Freundschaften und ihre persönliche Integrität. Ganz zum Schluss offenbart sich, dass sie sogar noch viel mehr tun würde, um zu gewinnen – und dass sie außerdem über einen geheimen Plan verfügt …

Wie die Geschichte letztlich ausgeht, sei hier nicht verraten. Der letzte Twist mag vielleicht die Glaubwürdigkeit der Figur ein wenig überstrapazieren, obwohl ihre Motive durchaus nachvollziehbar sind, doch man nimmt es der Miss Sloane, die man bis dahin kennengelernt hat, nicht wirklich ab. Das liegt vor allem daran, dass man dieser Figur nicht richtig nahekommt, weil ihre private Seite praktisch nicht vorhanden ist. Hier hätte man auf jeden Fall noch ein bisschen mehr herausholen müssen.

Ansonsten ist den Machern ein rundherum spannender und hochaktueller Politthriller über das moderne Washington gelungen, voller interessanter Figuren, kluger Wortwechsel und raffinierter Wendungen. Obwohl man Miss Sloane nicht leiden kann, schlägt man sich schnell auf ihre Seite, weil ihre Gegner noch hinterhältiger, kälter und grausamer sind. Politik ist eben ein verdammt schmutziges Geschäft …

Toll gespielt, spannend in Szene gesetzt – ein mitreißender Film zum Thema Waffenwahn in Amerika.

Note: 2

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.