Pearl

Gute Horrorfilme sind rar gesät. Das Genre ist ziemlich blutleer, um es einmal salopp zu formulieren, die Stories formelhaft, die Settings eintönig, die Figuren häufig stereotyp. Neue Impulse gibt es praktisch nicht mehr, weil alles bereits erzählt wurde, es kommt also auf das Wie an. The Conjuring und Smile waren riesige Erfolge, nicht weil sie das Genre neu erfunden hätten, sondern weil sie hervorragend inszeniert waren, mit einer unheimlichen Atmosphäre, der man sich nicht entziehen konnte, und spannenden Figuren, über die man mehr erfahren wollte.

Auch X hat vor zwei Jahren Aufsehen erregt. In dem Slasher ging es um eine Pornoproduktion im ländlichen Texas der späten Siebzigerjahre, deren Mitglieder von der mordlustigen greisen Farmersfrau gemeuchelt wurden. Interessanter als dieser Plot war jedoch die Erzählung über weibliche Sexualität und Selbstbestimmung, die besonders die erste, gewaltarme Hälfte des Films dominierte. Um der Hauptfigur mehr Raum zu geben und ihren Hintergrund besser zu erklären, drehte Regisseur Ti West gleich ein Prequel mit, das noch im selben Jahr herauskam. Ich habe es jetzt auf Wow nachgeholt.

Pearl

1918 in Texas: Pearl (Mia Goth) lebt auf der Farm ihrer Eltern (Tandi Wright und Matthew Sunderland). Ihr Vater ist gelähmt und pflegebedürftig, so dass die gesamte Farmarbeit auf den Frauen lastet, da auch Pearls Ehemann Howard als Soldat in Europa kämpft. In den Zeitungen liest man von der Spanischen Grippe, die immer mehr Opfer fordert, und bei den seltenen Ausflügen in die Stadt muss auch Pearl eine Maske tragen. Dennoch stiehlt sie sich, trotz des Verbots ihrer strengen Mutter, immer wieder ins Kino, um sich aus ihrem tristen Alltag fortzuträumen. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als selbst als Tänzerin auf der Leinwand zu agieren und ein großer Star zu werden, doch das Leben ist gegen sie.

Es spricht für die Autoren, Regisseur Ti West und Hauptdarstellerin Mia Goth, dass sie sich schon beim Dreh von X viele Gedanken zu Pearl und ihrem Leben gemacht haben. Auch als alte Frau hängt sie noch den Träumen ihrer Jungmädchenzeit nach, die sich alle ums Kino und den damit einhergehenden Ruhm drehen. Doch Pearl ist niemals aus der ländlichen Enge ihres Zuhauses hinausgekommen, selbst ihr Mann Howard, der aus einer wohlhabenden, städtischen Familie stammt, erweist sich nicht als das ersehnte Ticket in eine andere Welt, verliebt er sich doch nicht nur in Pearl, sondern auch in das Leben eines Farmers. Man kann daher Pearls Frustration nur zu gut verstehen. Sie steckt fest in einem Leben, das ihr keine Chance gewährt.

Während sich die Story in X mehr auf Pearls sexuelle Begierden im Alter und nur sekundär auf die Enttäuschungen ihres Lebens konzentriert, dreht sich im Prequel alles um ihren Frust. Spät im Film hält sie einen minutenlangen Monolog, in dem sie sich erklärt, und, böse gesagt, mehr hätte es auch nicht gebraucht, um die Figur zu verstehen.

Pearl entdeckt schon in jungen Jahren, dass sie anders ist, dass in ihr „etwas fehlt“, was andere Menschen haben. Es ist in erster Linie Empathie, aber auch Mut und Entschlossenheit, ihr Schicksal zu verändern. Schon in den ersten Szenen vor dem Titel sieht man, wie sie eine Gans mit der Heugabel aufspießt und dann an einen Alligator verfüttert. Was sich danach entfaltet, ist das Psychogramm einer waschechten Psychopathin oder Serienkillerin, die Vergnügen daraus zieht, andere Wesen zu quälen und zu töten. Was sie auch selbst zugibt, ohne wirklich erstaunt darüber zu sein.

Es scheint, als hätte Pearl sich schon längst damit abgefunden, böse und gewalttätig zu sein, und nur die Chance auf die Erfüllung ihres größten Wunsches, hält sie davon ab, diesen dunklen Impulsen nachzugeben. Wie alle Menschen will auch sie geliebt werden, doch ihr Ehemann ist weit fort und ihre Mutter nicht zu tieferen Gefühlen fähig. Als Tochter deutscher Immigranten ist sie hart und verschlossen, da die Gesellschaft des Ersten Weltkriegs sich gegen sie wendet und ausgrenzt. Die einzige Person, zu der Pearl ein engeres Verhältnis hat, ist der Vater, der nun im Rollstuhl sitzt und ihr etwas lästig fällt.

Grundsätzlich ist das alles gut durchdacht, nicht besonders einfallsreich, aber solide. Es könnte alles nur wesentlich intensiver erzählt werden. Pearls Mutter ist streng, aber kein Drache, der das Kind einsperrt, ihr Zuhause zwar nicht liebevoll, aber auch nicht von Gewalt und Unterdrückung geprägt. Außerdem könnte Pearl jederzeit weglaufen und versuchen, ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen, wie es andere vor ihr getan haben, aber sie harrt aus und wartet. Worauf eigentlich?

Die weitgehende Passivität der Figur legt sich erst spät, wenn sie zu einem Casting geht, bei dem neue Tänzerinnen für eine landesweite Revue-Tournee gesucht werden. Bis dahin spitzt sich die Handlung zu, denn Pearl fühlt sich in die Ecke getrieben und von ihren Eltern behindert – was leider nur sehr schwach erzählt wird. Immerhin ist der finale, tödlich endende Streit zwischen ihr und ihrer Mutter gut inszeniert, kommt aber zu spät und als Höhepunkt einer Entwicklung, die sich nur langsam und stotternd vollzogen hat.

Ging es in X noch um Pearls sexuellen Appetit, spielt dieser Aspekt nun kaum noch eine Rolle. Einmal gibt es eine leicht provokante Szene, in der sie mit einer Vogelscheuche kopuliert, dann hat sie eine Affäre mit dem lokalen Filmvorführer (David Corenswet). Aber so richtig kann sich das Thema nicht entfalten.

Pearl wirkt wie ein nur wenig durchdachter Schnellschuss. Das Drehbuch konzentriert sich auf die Hauptfigur, versäumt aber, ihr psychologische Tiefe oder Originalität zu verleihen, man versteht zwar, dass sie sich eingeengt fühlt, aber nicht, warum sich diese an sich starke Frau in ihr Schicksal fügt. Um den ersten, großen Gewaltausbruch, dem gleich mehrere Menschen zum Opfer fallen, zu rechtfertigen, hätte es wesentlich stärkeren Drucks bedurft – und eine intensivere Inszenierung.

Aber niemand erwartet von einem Slasher eine tiefenpsychologische Analyse seiner Figuren. Die Fans wollen in erster Linie Blut sehen und möglichst originelle Morde, aber genau das liefert Pearl nicht. Das Töten vollzieht sich weder spannend noch einfallsreich, sondern beiläufig, sehr spät in der Handlung und wenig explizit, so dass sich die Frage stellt, ob man den Film tatsächlich noch diesem Genre zuordnen kann.

Immerhin, hübsch ist der Film anzuschauen, auch wenn Farbgebung und Stil eher zu den frühen Technicolor-Filmen der 1940er Jahre gepasst hätten, und auch Frisuren und Kostüme wirken teilweise anachronistisch. Verglichen mit dem wesentlich besseren X ist Pearl eine Enttäuschung, oberflächlich in der Figurenbeschreibung, zu langsam im Tempo, zu zurückhaltend und spannungsarm in seinen Höhepunkten. Schade.

Note: 4+

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.