Nowhere

Heute wird es obskur. Als Filmstudent in den späten Neunzigern bin ich natürlich mit Vorliebe in Arthaus-Filme und Programmkinos gegangen. Über meine damalige Vorliebe für Wong-Kar-Wei habe ich schon berichtet, in derselben Zeit brachten aber noch weitere Regisseure ihre mutigen, zum Teil experimentellen oder zumindest innovativen Filmen heraus. So warte ich beispielsweise immer noch darauf, dass ich irgendwo die Frühwerke von Ang Lee wiedersehen kann, und ich frage mich, ob mir Hal Hartleys Geschichten heute immer noch gefallen würden. Oder Philip Ridleys Schrei in der Stille, der mich damals ungeheuer beeindruckt hat.

Aber zurück zum Obskuren. Einer der seltsamsten Filme, die ich damals gesehen (und wieder verdrängt) habe, war Nowhere von Gregg Araki. Ich mochte ihn nicht sonderlich, obwohl er visuell ansprechend war, weil er keine richtige Geschichte erzählte, sondern wie Richard Linklaters Slacker einfach einigen Figuren durch den Tag folgte (wobei Linklater sich immerhin strukturell um eine gewisse Ordnung bemüht und das Konzept von Schnitzlers Reigen übernommen hat). Jetzt hatte ich die Gelegenheit, Arakis Film ein zweites Mal zu sehen.

Nowhere

Dark (James Duval) möchte Filmemacher werden und erstellt für seinen Highschool-Kurs einen Beitrag über seine Freundin Mel (Rachel True), der er mit der Kamera auf Schritt und Tritt folgt. Die beiden führen eine offene Beziehung, was Mel vor allem ausnutzt, um mit anderen Jungs und Mädchen zu schlafen, während Dark sich heimlich etwas Festes wünscht. Wie alle anderen aus seiner Clique fühlt er sich verloren und sieht keine Zukunft. Insgeheim fühlt er sich auch zu Montgomery (Nathan Bexton) hingezogen, der neu an der Schule ist. Dark treibt ziellos durch den Tag, trifft einige Freunde und plant, am Abend auf eine große Party zu gehen, von der alle reden. Unterwegs beobachtet er jedoch, wie ein echsenähnlicher Alien, den nur er sehen kann, Leute umbringt oder entführt.

Der Film bildet den Abschluss der sogenannten Teen Apocalypse Trilogy, deren erste Teile Totally F***ed Up und The Doom Generation sind, von denen nur ersterer hierzulande im Kino lief. Dass Nowhere keine richtige Geschichte erzählt, stimmt natürlich nicht ganz, denn er folgt einer Gruppe befreundeter Teenager durch ihren Tag, dokumentiert ihr Leben und ihre sexuellen Abenteuer, erzählt von ihren Hoffnungen und Träumen bzw. der Abwesenheit davon. Alle planen, am Abend eine Party zu besuchen, und mit Dark gibt es auch einen Hauptdarsteller, der von diffusen Sehnsüchten nach Liebe und Stabilität getrieben wird und im Verlauf dieses Tages merkt, dass seine Beziehung zu Mel nicht wirklich echt ist, obwohl sie sich immer wieder ihrer Liebe zueinander versichern.

Die Jugendlichen in Nowhere sind eine verlorene Generation, aufgewachsen in materiellem Wohlstand, aber wenig behütet von ihren Eltern, die man bis auf wenige Ausnahmen nicht zu sehen bekommt und die kaum Anteil am Leben ihrer Kinder nehmen. Gleich zu Beginn gerät Dark in einen Streit mit seiner Mutter (Beverly D’Angelo), und auch die anderen Eltern sind eher mit sich und ihren Leben beschäftigt und haben für ihren Nachwuchs bestenfalls Desinteresse übrig. Mit der Darstellung orientierungsloser, promiskuitiver und nihilistischer Jugendlicher erinnert Nowhere stark an Kids oder andere Filme von Larry Clark, die thematisch Serien wie Skins oder Euphoria vorweggenommen haben und in der Tradition von Filmen wie …denn sie wissen nicht, was sie tun stehen. Am Lebensgefühl, der Inszenierung und den Geschichten hat sich dabei bis heute absolut nichts verändert. Es ist ein düsteres, hoffnungsloses und deprimierendes Bild der Jugend.

Die zweite, absurde Story, die sich durch den Film zieht, handelt von der Alien-Invasion, die möglicherweise real, vielleicht aber auch nur von Dark imaginiert ist. Sie steht als Metapher für den Nihilismus der Protagonisten, die an keine Zukunft glauben und auch keine erwarten. Dark beobachtet mehrfach, wie eine Echse von der Größe eines Mannes Teenager mit einer Strahlenkanone pulverisiert oder sie entführt, und der Alien scheint eine augenzwinkernde Komplizenschaft mit ihm einzugehen. Dieser Handlungsstrang ist bizarr, erinnert an B-Filme aus den Fünfzigern und wirkt stellenweise parodistisch, kulminiert aber in einem höchst überraschenden Ende.

Passend zum Nihilismus der Figuren tauchen überall im Film Hinweise auf das Ende der Welt auf, und ein Televangelist (John Ritter) ruft zur Umkehr und zur Vorbereitung auf die Apokalypse auf. Die Kids betäuben ihr Leiden an der Welt und die Leere in ihrem Leben mit einer Unmenge an Drogen und Sex und machen dabei traumatische Erfahrungen. In einer der härtesten Episoden lernt Egg (Sarah Lassez) einen Baywatch-Star (Jaason Simmons, der tatsächlich in dieser Serie mitwirkte) kennen, der eine düstere, brutale Seite hat und dem sie zum Opfer fällt.

Nowhere ist alles andere als ein guter Film, aber er hat einige Qualitäten. Arakis Regie wirkt mitunter unbeholfen, was in erster Linie vermutlich einem mehr als nur bescheidenen Budget zuzuschreiben ist, strotzt aber vor Einfallsreichtum. Seine Schnittfolge ist schneller als bei den meisten Filmen dieser Zeit, sein Stil erinnert bisweilen an Scorsese oder Tarantino, bleibt sich aber selbst treu und ist insgesamt originell. Einige Szenen stechen besonders heraus, etwa die Sex-Parallelmontage (nebenbei: die Teenager haben zwar Unmengen an Sex, die Inszenierung ist aber von erstaunlicher Prüderie, zumindest verglichen mit Euphoria) oder der extrem brutale Mord mit einer Dose Campbells Tomatensuppe. Gelungen sind auch Ausstattung und Kostüme, die stylisch und zeitlos wirken.

Bemerkenswert ist auch die schier endlose Reihe von namhaften Schauspielern, von denen manche schon damals bekannt waren, während andere es erst später werden sollten. Dazu zählen Christina Applegate, Ryan Phillippe, Heather Graham, Mena Suvari, Debi Mazar, Chiara Mastroianni, Denise Richards, Rose McGowan, Shannon Doherty, Guillermo Diaz und Scott Caan. Einige sind nur in einer Szene zu sehen, andere spielen eine größere Rolle. Und heute staunt man darüber, wie jung sie alle aussehen.

Wer obskure, kleine Filme, düstere Coming-of-Age-Geschichten oder Serien wie Euphoria mag, sollte die Augen nach Nowhere aufhalten. Wie gesagt, kein richtig guter Film, aber einer mit verborgenen Qualitäten.

Note: 3

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.