I am the Night

Manche Geschichten sind zu bizarr, um wahr zu sein. Nein, heute geht es nicht um die Trump-Präsidentschaft, sondern um die Lebensgeschichte von Fauna Hodel, die den Autor Sam Sheridan zu der Miniserie I’am the Night inspiriert hat. Sie lief in den letzten Wochen auf Sky, und ich habe sie mir vergangenes Wochenende angesehen.

1965 lebt Fauna (India Eisley) noch als Pat in einem Vorort von Reno. Ihre Mutter Jimmy Lee (Golden Brooks) ist schwarz, und Fauna glaubt, dass sie gemischtrassig ist, obwohl sie wie eine Weiße aussieht und auch oft für eine gehalten wird, weshalb sie weder von ihren schwarzen Freunden noch von den Weißen als ihresgleichen betrachtet wird. Eines Tages findet die 16jährige jedoch ihre Geburtsurkunde und erfährt so, dass sie adoptiert wurde. Ihre weiße Mutter war ein Teenager namens Tamar Hodel, ihr schwarzer Vater unbekannt. Neugierig geworden, ruft sie Tamars Vater George (Jefferson Mays) an, der ein bekannter und reicher Arzt in Los Angeles ist und sie spontan zu sich einlädt.

Als sie seine imposante Villa erreicht, steht sie jedoch vor verschlossener Tür. Sie recherchiert und stößt dabei auf seine Ex-Frau Corinna (Connie Nielson), eine bekannte Künstlerin und Mäzenin, die sie eindringlich vor George warnt. Gleichzeitig stellt Fauna fest, dass sie von einem geheimnisvollen Mann verfolgt wird. Erst als sie sich mit dem abgehalfterten Journalisten Jay Singletary (Chris Pine) zusammentut, der vor Jahren über einen spektakulären Prozess berichtet hat, in dem Tamar ihren Vater der grauenvollsten Dinge beschuldigt hat, und dessen Karriere daraufhin zerstört wurde, kommt sie langsam dem Geheimnis von George Hodel auf die Spur …

Ich will gar nicht so viel über die Geschichte verraten, denn je weniger man weiß, desto spannender ist der Sechsteiler. Als Krimi taugt die Handlung leider nur bedingt, weil die meisten Morde, um die es geht, lange zurückliegen und man relativ bald erkennt, dass es nur wenige Verdächtige und kaum etwas zu ermitteln gibt. Da es reale Morde sind, hat man natürlich schon von ihnen gehört, und sie haben auch bereits andere Filme inspiriert. Als Sittenbild und Familiengeschichte funktioniert der Mehrteiler besser, weil er viel über die amerikanische Gesellschaft jener Zeit erzählt, über die Macht einflussreicher Männer, die sich erfolgreich der Strafverfolgung entziehen, die korrupte Polizei und die Ohnmacht der Minderheiten, die sich gegen Ende in sozialen Aufständen entlädt.

Es sind vor allem aber die beiden Hauptfiguren, die einen in den Bann schlagen. Fauna muss eine Menge verkraften, als Farbige aufgewachsen und mit der alltäglichen Diskriminierung in den USA der Sechziger vertraut, erfährt sie nicht nur, dass sie eine vollkommen andere soziale, sondern auch rassische Herkunft hat. Ist ihre Mutter Jimmy Lee eine verbitterte, gemeine Frau, von ihrem Mann verlassen, um eine Karriere als Sängerin betrogen, die ihre Wut oft an ihrer Tochter auslässt, stolpert Fauna auf der Suche nach ihrer wahren Herkunft in eine wahrhaftige Horrorfamilie. India Eisley spielt diese junge Frau auf Identitätssuche als scheues Reh, angepasst, bescheiden und unterwürfig, die erst sehr spät in der Geschichte an Kraft und Statur gewinnt, bis sie zuletzt dem geheimnisvollen George Hodel Paroli bieten kann.

Ihr gegenüber steht ein desillusionierter Journalist, den Chris Pine als faszinierende Mischung aus Film Noir-Schnüffler und zynischem Punching Ball darstellt. Ein traumatisierter Ex-Soldat, der zu lange in die Abgründe des systematischen Mordens geblickt hat und noch immer von den Geistern seiner Vergangenheit heimgesucht wird, ein Mann, der um eine Karriere als brillanter Journalist gebracht wurde, weil er einmal zu oft die Wahrheit verkündet und sich mit den Mächtigen angelegt hat.

Es dauert lange, bis aus den ungleichen Figuren ein Duo wird, aber zu sehen, wie ihre Wege sich kreuzen, wie sie demselben Phantom nachjagen, ist ebenfalls interessant. Die faszinierendste Figur und eine der gruseligsten seit langem ist George Hodel, der lange Zeit wie ein Schatten durch die Handlung geistert und erst zum Ende hin in Erscheinung trägt. Bis dahin hat man sich jedoch bereits ein Bild gemacht von diesem hochintelligenten, aber gefühlskalten Mediziner, der die Kunst liebt, dem aber versagt geblieben ist, selbst ein Künstler zu sein. So erhält selbst das Monster in der Geschichte noch ein menschliches Antlitz.

Den Produzenten, zu denen auch Chris Pine und Wonder Woman-Regisseurin Patty Jenkins, die die ersten beiden Folgen inszeniert hat, zählen, ist ein faszinierendes Crime-Drama gelungen, das zwar erst spät richtig spannend wird, aber den Zuschauer bis dahin mit seinen starken Charakteren und seinem Zeitkolorit fesselt und viel über Herkunft, Macht, Kunst und Rassismus erzählt. Dass vieles davon sogar wahr ist oder zumindest wahr sein könnte, sorgt darüber hinaus für einen Schrecken, der einen noch lange verfolgt. Wer neugierig ist, sollte sich den Wikipedia-Eintrag über George Hodel durchlesen – aber besser erst nach dem Genuss der Serie.

Düster, fesselnd und abgründig. Gut.

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.