Midsommar

Unter normalen Umständen wäre heute meine Mai-Übersicht fällig gewesen, aber da die Kinos immer noch geschlossen sind und ohnehin nichts Neues startet, entfällt sie zwangsläufig. Gerüchten zufolge wird über eine Öffnung der Kinos Ende Mai oder Anfang Juni diskutiert, genaues erfahren wir vielleicht Mitte der Woche, aber bis dahin müssen wir uns leider noch etwas gedulden.

Wie neulich angekündigt, habe ich mir nun Midsommar angesehen, den zweiten Langfilm von Regisseur und Autor Ari Aster nach Hereditary

Midsommar

Dani (Florence Pugh) verliert ihre depressive Schwester und ihre Eltern in einem erweiterten Suizid, der die ohnehin psychisch labile Frau völlig aus dem Gleichgewicht bringt. Ihr Freund Christian (Jack Reynor) wollte zu dem Zeitpunkt bereits mit ihr Schluss machen, bleibt aus Pflichtgefühl aber bei ihr. Einige Monate später erhält der Anthropologie-Student eine Einladung von seinem schwedischen Kommilitonen Pelle (Vilhelm Blomgren), ihn in seiner Heimat zu besuchen. Pelle ist in einer Art Kommune aufgewachsen, die sehr traditionell und abgeschieden lebt. Zusammen mit Dani, Christian sowie den Studenten Josh (William Jackson Harper) und Mark (Will Poulter) reist er zum Mittsommer-Festival nach Schweden. Doch in der malerischen Gemeinde ist nichts wie es scheint …

Ari Aster lässt in seinen beiden Filmen bislang drei Vorlieben erkennen: Er mag kurze, ungewöhnliche Titel, lässt sich von den Horrorfilmen der späten Sechziger und frühen Siebziger inspirieren und hat ein Faible für heidnische, archaische Rituale. Sowohl in Hereditary als auch in Midsommar gibt es eine starke okkulte Strömung, die unser modernes, aufgeklärtes Leben unterspült, bis es am Ende unter seinem eigenen Gewicht zusammenbricht. Häufig geht dies Hand in Hand mit blutigen Familientragödien, die den Hauptfiguren den Boden unter den Füßen wegziehen und sie in emotionale Ausnahmesituationen zwingen.

Auch Dani muss mit einem schweren Verlust klarkommen und wirkt nahezu den gesamten Film über verstört und wie betäubt. Ihre Beziehung zu Christian besteht nur noch formal, denn er geht kaum auf ihre Bedürfnisse ein und wirkt sehr distanziert. Das macht es insgesamt schwer, Sympathien für die beiden aufzubringen, auch wenn einem Dani zumindest anfangs leid tut. Leider ist sie eine sehr passive, fast schon devote Frau, die über keinerlei Selbstwertgefühl zu verfügen scheint. Auch ihre Reisegefährten oder die schrägen Bewohner des Dorfes laden nicht gerade zur Identifikation ein.

Entsprechend schwer fällt es, mit den Figuren mitzugehen und an ihrem Schicksal Anteil zu nehmen – zumal man sich bereits kurz nach ihrer Ankunft in Schweden denken kann, wie dieses aussieht. Der Film hat einige Parallelen zu The Wicker Man, der vermutlich als Blaupause für alle Horrorfilme über heidnische Kulte dient. Auch hier geht es um blutige Rituale und einen obskuren Kult, die beide nichts mit den herkömmlichen Feierlichkeiten in Schweden zu tun haben. Vielleicht bescheinigten deshalb einige schwedische Kritiker dem Film einen Sinn für dunklen Humor.

Tatsächlich fällt es schwer, in dem Streifen überhaupt einen Horrorfilm zu sehen. Interessant ist dabei jedoch das Experiment, den Horror bei strahlendem Sonnenschein stattfinden zu lassen, was ungewöhnlich ist – und leider nicht funktioniert. Der Film ist in keiner Szene gruselig, nur gelegentlich etwas beklemmend oder brutal. Mitunter sogar verstörend brutal, obwohl einige zu extreme Szenen angeblich entfernt wurden und im dreißigminütigen längeren Director’s Cut zu finden sind.

Es gibt vieles, was man an dem Film kritisieren kann, seine oberflächliche Figurenzeichnung etwa oder sein langsames Tempo, das Fehlen eines richtigen Spannungsbogens oder einer originellen Handlung. Aber ein Pluspunkt ist definitiv der Detailreichtum der schönen Ausstattung, die versteckte Symbolik, die sich erst bei genauerem Hinsehen erschließt, und die kontemplative Kameraarbeit. Nur eines hat sich mir nicht erschlossen: Der vielfach gerühmte schwarze Humor hat bei mir nicht gezündet.

Wegen Corona kann man gerade nicht nach Schweden reisen, der Film entschädigt dafür mit netten Folklore-Bildern, die so unvermittelt in brutale Gewalt umschlagen, dass man dankbar anschließend dafür dankbar ist, nicht nach Skandinavien reisen zu können. Wer ein Faible für obskure Filme mit Horror-Einschlag hat, sollte Midsommar unbedingt eine Chance geben.

Note: 3

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.