Kindeswohl

Emma Thompson ist eine tolle Schauspielerin. Das erste Mal aufgefallen ist sie mir Ende der Achtziger in Das lange Elend an der Seite von Jeff Goldblum, in dem die beiden, wenn ich mich recht entsinne, in einer hinreißend komischen Sex-Szene eine Wohnung oder zumindest ein Schlafzimmer zerlegen.

Leider hat sie sich lange Zeit rar gemacht, und auch ihre letzten Filme waren nicht so gut wie ihre früheren Werke. Deshalb war ich froh, als vor einiger Zeit Kindeswohl bei Amazon Prime erschien, und jetzt habe ich ihn endlich gesehen.

Kindeswohl

Richterin Fiona Maye (Emma Thompson) ist eine Spezialistin in Familienrecht und verhandelt häufig brisante Fälle. Einer davon ist der des siebzehnjährigen Adam (Fionn Whitehead), der an Leukämie erkrankt ist und nur durch eine unterstützende Bluttransfusion überleben könnte. Seine Eltern sind jedoch Zeugen Jehovas, die zwar nichts gegen die Krebsbehandlung, allerdings etwas gegen die Transfusion haben. Auch Adam lebt nach den Prinzipien seines Glaubens, und da er in wenigen Monaten volljährig wird, will er selbst über sein Schicksal entscheiden. Fiona besucht ihn im Krankenhaus und ist von dem leidenschaftlichen, intelligenten jungen Mann beeindruckt. Da sie an das Gesetz gebunden ist, entscheidet sie sich für seine Rettung. Nach seiner Genesung beginnt Adam, der Richterin, die er für seine Lebensretterin hält, zu folgen. Fiona, durch eine Krise in ihrer Ehe mit Jack (Stanley Tucci) ohnehin aus dem emotionalen Gleichgewicht, gerät durch Adam in eine schwere Lebenskrise …

Der Film beginnt beinahe wie eine Folge der US-Serie E.R., stellt bewusst mehrere moralische Konflikte zur Diskussion (vor Adams Fall geht es um siamesische Zwillinge) und schildert, inwieweit das Recht Vorrang genießt vor dem Glauben und manchmal auch der persönlichen Freiheit. Dabei gelingen einige bemerkenswerte Einblicke in die Welt der britischen Rechtsprechung mit ihren Traditionen und Verfahrensweisen.

Emma Thompson ist perfekt für die Rolle der Richterin geeignet, schafft sie es doch immer wieder, auf sehr subtile Art und Weise ihre Gefühle zu vermitteln, obwohl sie nach außen hin stets die emotional distanzierte und sachliche Juristin bleibt. Genau das ist ihr persönliches Dilemma, gefangen in einem Korsett aus Regeln und Gesetzen, ist sie unter Robe und Perücke doch nur ein Mensch und entsprechend von den Nöten der Menschen, über die sie richten muss, berührt.

In Adams Fall spürt man schnell, dass dieses Schicksal ihr besonders unter die Haut geht. Aufgrund ihrer Profession, die viel ihrer Zeit und Energie verschlingt, hat sie ihre Ehe mit Jack vernachlässigt. Ihr Mann fordert entsprechend zu Beginn eine außereheliche Affäre ein, weil Fiona ihn praktisch schon vor langer Zeit verlassen hat. Es ist schade, dass dieser Aspekt des Films relativ kurz behandelt wird und nur an der Oberfläche kratzt, denn das Zusammenspiel von Tucci und Thompson ist großartig und lässt eine Fülle von Interpretationen zu.

Am problematischsten ist der Part des Adam, der zwar sehr leidenschaftlich von Fionn Whitehead verkörpert wird, aber alles in allem nicht hundertprozentig überzeugen kann. Anfangs erscheint Adam überaus reif und erwachsen, gleichzeitig aber auch naiv in der Hinsicht, alle religiösen Regeln seiner Gemeinschaft ungefragt als wahrhaftig hinzunehmen. Daraus hätte sich ein interessanter Diskurs entwickeln können. Stattdessen verfällt Adam von einem Extrem ins andere, lehnt später Eltern und Religion ab, um Fiona zu idealisieren und romantisch zu verklären. Ein bisschen erscheint er wie einer jener romantischen Poeten des 19. Jahrhunderts, deren Gedichte er rezitiert. In unserer Zeit wirkt er lediglich überspannt und seltsam, in manchen Momente geradezu psychotisch.

So spannend und bewegend die erste Hälfte des Films ist, so flach und verworren erscheint die zweite Hälfte. Man erkennt nicht so recht, in welche Richtung sich alles entwickeln soll, bis es zu einem furchtbar melodramatischen Ende kommt. Fionas Dilemma wird nicht wirklich gelöst, sie macht im Grunde weiter wie bisher, und als Zuschauer kann man nur hoffen, dass sie sich dabei nicht so elend fühlt wie man sich selbst beim Zuschauen.

Gute Schauspieler, starker Anfang, zum Ende hin aber leider zu deprimierend und melodramatisch.

Note: 3-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.