Border

Meine Watchlist bei Prime Video hat einiges mit der Roten Liste der gefährdeten Tierarten gemein, denn die Anzahl der Filme, die demnächst verschwinden werden, wird ständig größer. Einer davon ist Border.

Als das schwedische Fantasy-Drama vor drei Jahren in die Kinos kam, war ich, auch aufgrund der guten Kritiken, durchaus interessiert, habe es mir dann aber doch nicht angesehen. Grund dafür war der Trailer, der zwar grundsätzlich neugierig gemacht, aber leider nicht den Eindruck erweckt hat, auch eine spannende Geschichte zu erzählen. Im Endeffekt landete der Film auf meiner Watchlist, und irgendwie hatte ich nie große Lust, ihn mir anzuschauen. Bis er drohte, bald zu verschwinden.

Heutzutage nennt man das wohl FoMO (Fear of Missing Out) oder die altmodische Angst, etwas zu verpassen, die mich zum Einschalten bewegt hat. Könnte ja sein, dass mir ein moderner Kultklassiker entgeht …

Border

Tina (Eva Melander) ist mit ihrem grob konturierten Gesicht mit der vorspringenden Stirn und der dicken Nase eine auffällige Erscheinung. Sie arbeitet für den Zoll und setzt dabei ihren einzigartigen Geruchssinn ein, der ihr erlaubt, menschliche Emotionen wie Angst oder Scham zu wittern, um Schmuggler zu überführen. Eines Tages stößt sie so auf einen Mann, der Kinderpornos bei sich führt, und wird von der Polizei zu den Ermittlungen gegen einen Pädophilen-Ring hinzugezogen. Gleichzeitig lernt sie den geheimnisvollen Vore (Eero Milonoff) kennen, der ihr ähnlich sieht und sie über ihre Herkunft aufklären kann. Denn Tina leidet nicht, wie sie immer dachte, unter einer Chromosomenveränderung …

Man kann verstehen, dass die Maske für den Oscar nominiert war, denn das Aussehen der beiden Hauptdarsteller ist so raffiniert verändert worden, dass man tatsächlich meinen könnte, Neandertaler oder andere prähistorische Menschenarten vor sich zu sehen. Die Auflösung geht dann jedoch in eine völlig andere Richtung und sei hier nicht verraten, passt aber gut zur mystisch angehauchten Atmosphäre der Geschichte und überrascht mit einigen skurrilen anatomischen Details.

Es wird allerdings auch deutlich, dass das Buch auf einer Kurzgeschichte von John Ajvide Lindqvist basiert, die er zusammen mit Regisseur Ali Abbasi und Isabelle Eklöf ausgebaut hat, denn über weite Strecken folgt man lediglich der Hauptfigur durch ihren Alltag. Man sieht, wie Tina Schmuggler zur Strecke bringt, ihren dementen Vater im Heim besucht und zu ihrem Mitbewohner heimkehrt, der ausgerechnet Hunde züchtet. Denn Hunde können Tina nicht leiden und bellen sie unentwegt an, während Wildtiere so zutraulich sind, dass sie in einer geradezu magisch anmutenden Szene einen Elch streichelt. Überhaupt sind die Naturaufnahmen sehr hübsch in Szene gesetzt und unterstreichen den märchenhaften Charakter der Geschichte. Auch Tina selbst hat sich als Kind in Märchen hineingeträumt, um ihrer traurigen Realität zu entkommen, hat sich als Erwachsene jedoch einem pragmatischen Lebensstil verschrieben, indem sie versucht, ein guter Mensch zu sein, der Welt ansonsten aber aus dem Weg geht.

Vore reißt sie aus diesem selbstgewählten inneren Exil, indem er ihr aufzeigt, dass sie weder ein Mensch noch an deren Regeln gebunden ist. Zu sehen, wie er Tina aus der Reserve lockt, ihre animalischen Instinkte und damit eine neue Lebensfreude weckt, ist schön geschildert. Es dauert jedoch ein bisschen zu lang.

Dabei verfügt der Film über genügen Elemente, der Geschichte Tempo und Spannung zu verleihen. Tinas Hilfe bei den Ermittlungen führt durchaus zu unerwarteten Ergebnissen (und einer überraschenden Wendung), die am Ende für ein kleines bisschen Suspense sorgen. Zudem kommen Vores Geheimnisse, ein Wechselbalg und eine schwangere Nachbarin von Tina ins Spiel, durch die sich die Story in den letzten dreißig Minuten durchaus noch zuspitzt. Leider wird vieles im Eiltempo abgewickelt werden, und nicht alle Nebenhandlungen werden auch zu Ende erzählt.

Dieser unausgewogene Rhythmus in der Erzählweise sorgt für ein Ungleichgewicht und der Mix aus unterschiedlichen Themen für eine inhaltliche Überfrachtung der Geschichte. Elemente aus Liebesgeschichte, Märchen, Thriller und Selbstfindungsstory werden munter gemischt, aber in der Summe ist es nichts Halbes und nichts Ganzes. Das ist sehr schade, denn man hätte viel mehr aus der Idee machen können. Ein Remake böte sich hier wohl an…

Note: 3

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.