Intrige

Selbst Leute mit rudimentären Geschichtskenntnissen haben vermutlich schon einmal von der Dreyfus-Affäre gehört, die Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts erschütterte und das Land tief spaltete. Und wenn nicht, dann kennt man sicherlich das berühmte „J’accuse …!“, mit dem Émile Zola seinen offenen Brief an den Präsidenten betitelt hat, in welchem er die Drahtzieher der Affäre anklagt, und das zu einem geflügelten Wort geworden ist.

Das Buch von Robert Harris, auf dem der Film basiert, liegt bereits seit Jahren auf meinem Nachttisch – und wird dort vermutlich noch weitere Jahre liegen, nachdem ich mir jetzt Roman Polanskis Verfilmung angesehen habe. Diese kann man noch einige Zeit bei Prime Video streamen. Es lohnt sich.

Intrige

Anfang 1895 wird Hauptmann Alfred Dreyfus (Louis Garrel) wegen angeblicher Spionagetätigkeit für Deutschland öffentlich degradiert und anschließend auf eine entlegene Insel am Ende der Welt verbannt. Einige Zeit später wird sein ehemaliger Ausbilder, Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin), zum Leiter des militärischen Geheimdienstes des Kriegsministeriums befördert, jener Behörde, die Dreyfus enttarnt hat. In Unterlagen, die ihm aus der deutschen Botschaft zugespielt werden, wird er auf einen weiteren Spionagefall aufmerksam: Offenbar verkauft Major Esterházy (Laurent Natrella) Militärgeheimnisse an den Feind. Doch bei genauerer Überprüfung stellt Picquart fest, dass Esterházys Schrift exakt mit der auf einem Schriftstück übereinstimmt, das maßgeblich zu Dreyfus’ Verurteilung gesorgt hat. Sein Versuch, Dreyfus’ Unschuld zu beweisen, stößt bei seinen Vorgesetzten jedoch auf Widerstand. Schlimmer noch: Um einen Skandal zu verhindern und Fehlverhalten zu vertuschen, gerät nun auch Picquart ins Visier der Mächtigen …

Als der Film in Venedig uraufgeführt und später für zahlreiche Césars nominiert wurde, entfachte er eine Kontroverse um den Regisseur: Wie soll man mit dem Werk eines Mannes umgehen, der wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen angeklagt war und sich einem Prozess durch Flucht entzogen hat? Beinahe wäre es darüber zu einem Skandal gekommen, und das bei einem Film, in dem es um einen der berühmtesten Skandale Europas geht. Der häufig gemachte Vorschlag, das Werk möglichst von der Person des Künstlers zu trennen, ist vermutlich in keinem Metier sinnvoller als in der Kunstform des Films, der ja immer auch das gemeinsame Produkt eines Teams ist.

Polanski inszeniert die Geschichte als klassisches Historien- und Gesellschaftsdrama mit opulenten Bildern (Kamera: Pawel Edelman), prachtvollen Kostümen und Kulissen. Auch die Musik von Alexandre Desplat ist superb und besticht mit leicht militärischer Note. Im Zentrum der Geschichte steht jedoch nicht Dreyfus, sondern Picquart, weshalb sie relativ spät beginnt und die Verurteilung des Offiziers in Rückblenden nacherzählt.

Picquart ist ein sperriger Held, den man zu Beginn nicht mag und mit dem man erst sehr spät warm wird. Er ist zwar kein offener Antisemit, kann die Juden aber nicht leiden, und seine unterkühlte, beherrschte Art erschwert zusätzlich jeglichen emotionalen Zugang. Gefühle zeigt der Mann nur bei seiner verheirateten Geliebten Pauline (Emmanuelle Seigner in der einzigen nennenswerten Frauenrolle). Schlimmer noch ist, dass auch Dreyfus in seinen kurzen Auftritten sehr distanziert und arrogant wirkt und somit als Identifikationsfigur ebenfalls ausfällt.

Doch Polanski und seinem Co-Autor Robert Harris gelingt es, das Interesse an einer Spionagegeschichte zu wecken, die von Mal zu Mal abenteuerlicher und zuletzt aberwitzig wird. Zuerst geht es um die Jagd nach dem wahren Spion, dann mehr und mehr um den Unwillen der Generäle und Minister, Fehler einzugestehen. Auf dem Höhepunkt wird sogar der eigentliche Spion in Schutz genommen und Anklage gegen die Aufklärer erhoben. Zola muss aus dem Land fliehen, seine Bücher werden öffentlich verbrannt, jüdische Geschäfte verwüstet. Polanski zeichnet hier das düstere Bild einer Gesellschaft, in der kaum versteckter Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit Hand in Hand gehen, und zieht damit einige Parallelen zur Gegenwart.

Wer mehr über die Dreyfus-Affäre und das Frankreich des Fin de Siècle erfahren will und Gefallen an verzwickten Intrigen und Spionageabenteuern hat, sollte sich den Film unbedingt anschauen.

Note: 2-

Für diese Woche ist dies die letzte Kritik, da ab morgen die Kölner Filmmesse beginnt. Ich bin neugierig, wie diese erste, größere Live-Veranstaltung unter Corona-Einschränkungen sein wird, und wir berichten wie gewohnt möglichst zeitnah.

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.