Die brillante Mademoiselle Neïla

Bereits vorletzte Woche ist Contra gestartet, den wir im Januar 2020 vorab sehen durften, und eigentlich hätte mein Beitrag rechtzeitig zum Start erscheinen sollen. Aber im Augenblick geht es bei mir so hektisch zu, dass ich das völlig vergessen habe. Asche auf mein Haupt!

Aber besser zu spät als nie, heißt es bekanntlich im Volksmund, und da der Film nach wie vor in den Kinos läuft, gibt es für Unentschlossene auch noch eine Menge Gelegenheiten, ihn nachzuholen. Bevor ich morgen auf Contra eingehe, dreht sich heute alles um das französische Original, das ich ebenfalls angeschaut habe …

Die brillante Mademoiselle Neïla

Neïla (Camélia Jordana) ist Jurastudentin im ersten Jahr, die gleich zu Beginn des neuen Semesters zu spät zu ihrer Vorlesung bei Professor Pierre Mazard (Daniel Auteuil) kommt – und von ihm vor der Studentenschaft beleidigt wird. Weil seine Äußerungen rassistische Anklänge haben, wird er beim Präsidenten der Universität angezeigt. Dieser rät ihm, Neïla unter seine Fittiche zu nehmen und für einen Rhetorik-Wettbewerb zu coachen, um so die Vorwürfe zu entkräften. Widerwillig geht Pierre darauf ein und überredet auch Neïla zur Teilnahme. Unerwartet hat sie dabei großen Erfolg …

Seit einigen Jahren ist die Öffentlichkeit viel aufmerksamer und empfindlicher geworden, wenn es um xenophobe oder misogyne Beleidigungen geht. Was früher noch als schlechter Witz oder plumpe Geschmacklosigkeit durchgegangen wäre, wird heute geahndet, und da jeder dank seines Smartphones eine Kamera zur Hand hat und die Beweise in den sozialen Medien präsentieren kann, werden auch mehr Verfehlungen publik.

Dennoch versuchen die Männer, und es sind ja immer die weißen, älteren Männer, sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Insofern ist der Aufhänger zu dieser Geschichte über Vorurteile und die Macht des Wortes sehr gelungen. Auch die Paarung ist gelungen: Auf der einen Seite der ältere Professor, der seine elitäre Position in Gefahr sieht durch aufstrebende junge Leute aus dem Prekariat, der die Oberflächlichkeit der Gesellschaft und die sozialen Medien ablehnt, in denen jeder seine unqualifizierte Meinung ungefiltert äußern darf. Auf der anderen Seite die Französin mit Migrationshintergrund aus dem Banlieue, die studiert, um sich ein besseres Leben zu erarbeiten, aber befürchtet, trotz akademischer Ausbildung nur aufgrund ihres Namens keinen Job zu bekommen. Zwei gegensätzliche Charaktere, die sich aneinander abarbeiten, sich reiben, streiten und schließlich widerwillig die positiven Eigenschaften des anderen zu schätzen lernen, so dass am Ende beinahe eine Freundschaft entsteht. Das ist klug erzählt.

Leider kommen die Figuren in der zweiten Hälfte etwas zu kurz. Man erfährt zwar etwas über Neïlas alleinerziehende Mutter und ihre traditionell eingestellte Großmutter, aber ansonsten bleibt ihr Umfeld weitgehend unbekannt. Es gibt zwar einen Kommilitonen, mit dem sie gelegentlich spricht, aber er ist nicht viel mehr als ein Stichwortgeber. Auch über Pierres Leben erfährt man nicht viel. Das fällt zwar nicht so stark ins Gewicht, da es mehr um das Miteinander der beiden Figuren geht, hätte aber zur Abrundung ihrer Charaktere beigetragen und den Blickwinkel des Films erweitert. Einzig Neïlas Love-interest Mounir (Yasin Houicha) spielt eine etwas größere Rolle und widerlegt ebenfalls das Klischee von den frechen Jugendlichen aus den Pariser Vorstädten.

Neben Vorurteilen geht es auch um die Macht des Wortes und die Kunstgriffe der Rhetorik. Pierre bringt Neïla bei, eloquent und raffiniert zu argumentieren. Es geht dabei vor allem darum, sich in einer Diskussion durchzusetzen und die geschliffenere Argumentation zu liefern, weniger um den Wahrheitsgehalt der Aussagen oder die Werte und Prinzipien, die vertreten werden. Auf diese Weise vermittelt er ihr, sich selbst in der Welt darzustellen und zu behaupten, und zu sehen, wie aus der trotzigen Neïla eine selbstbewusste Frau wird, ist schön erzählt.

Note: 3

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.