tick, tick … Boom!

Bleiben wir heute noch einmal bei Musicals. Lin-Manuel Miranda hat eindeutig einen Lauf: Hamilton ist ein riesiger Erfolg an Broadway, mit In the Heights wurde ein weiteres Stück von ihm verfilmt, und nun hat er für Netflix ein ungewöhnliches Bio Pic inszeniert: ein autobiografisches Musical aus der Feder von Jonathan Larson.

Von Jonathan Larson haben vielleicht nur Insider gehört, sein wichtigstes Werk, Rent, und vor allem das tragische Schicksal des Komponisten, der am Tag der Premiere starb, dürften aber mehr Menschen kennen, zumal das Stück 2005 auch verfilmt wurde. Nun erfahren wir, welche Geschichte hinter dem Komponisten steckt.

tick, tick … Boom!

1992 führt Jonathan Larson (Andrew Garfield) einen „autobiografischen Rock-Monolog“ in einem Theater-Workshop auf, in dem er musikalisch sein Leben und seine Karriere reflektiert und vor allem auf die Woche kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag 1990 zurückblickt: Sein Musical Superbia soll in einem Workshop für eine Handvoll Broadway-Produzenten aufgeführt werden, und Jonathan hofft, dass dies endlich den ersehnten Durchbruch bringt. Immerhin hat er acht Jahre lang an dem Stück gearbeitet. Gleichzeitig verlangt seine Freundin Susan (Alexandra Shipp) jedoch eine Entscheidung, sie will eine Lehrstelle außerhalb der Stadt annehmen und bittet ihn, mit ihr zu kommen. Doch Jonathan muss noch einen wichtigen Song schreiben, sein Job als Kellner verlangt einiges von ihm ab, er ist chronisch pleite, hat Angst, dass ein weiterer enger Freund an AIDS sterben könnte, und versucht, sein Idol Stephen Sondheim (Bradley Whitford) zur Aufführung einzuladen.

Geschichten über strauchelnde Künstler sind vor allem für eine Zuschauerschicht von großem Interesse: strauchelnden Künstlern. Nur sie können kreative Krisen, existenzielle Nöte und den Druck nachvollziehen, der auf einer sensiblen Seele in einer fordernden Welt lastet. Dass dies kein klassisches Cheerie Movie ist, passt ebenfalls perfekt, denn nur im Augenblick des Scheiterns kann man wahre Größe ermessen.

Okay, Spaß beiseite … tick, tick … Boom! ist ein Film, den man erst dann richtig zu würdigen weiß, wenn man sich ein wenig mit Jonathan Larson und seinem Werk beschäftigt, und es ist kein Zufall, dass sich Lin-Manuel Miranda dieser Adaption angenommen hat. Wie Miranda gehörte Larson zu den Erneuerern des Broadways, indem er zeitgenössische Themen verarbeitet und gesellschaftskritische Storys erzählt hat. Superbia war ursprünglich eine Adaption von George Orwells 1984, entwickelte sich dann aber zu einen Stück über soziale Entfremdung und den Verlust emotionalen Empfindens durch übermäßigen Medien-Konsum. Heute wäre das ungewöhnlich und würde vor allem auf die sozialen Medien anspielen, Anfang der Neunzigerjahre war es geradezu revolutionär.

Entsprechend war es auch erfolglos und wurde nie realisiert. Doch Jonathan steckt all seine Hoffnungen und Träume in dieses Stück, verausgabt sich bis zur Erschöpfung, um es zu perfektionieren, und torpediert dabei seine Beziehung zu Susan. Der Schaffensprozess, das Ringen um die richtigen Worte und die perfekten Melodien, aber auch die Störungen desselben durch sein Umfeld, durch die Anforderungen des Lebens, machen einen Großteil der Geschichte aus. Ihr pochendes, begeistertes und begeisterndes Herz ist Andrew Garfield, der absolut fantastisch in dieser Rolle ist und seine Oscarnominierung mehr als verdient hat. Er allein hält alles zusammen.

Die Rahmenhandlung wiederum reflektiert diese wichtige Phase in Jonathans Leben, in dem er lernt, dass ein Scheitern auch heilsam sein kann, dass nicht der Erfolg wichtig ist, sondern sich selbst treu zu bleiben und sich für die einzubringen, die man liebt. Gleichzeitig schwingt zwischen den Zeilen auch die Entstehung von Rent mit, Larsons größtem Erfolg, den er tragischerweise nicht mehr erlebt hat. Das Wissen um seinen frühen Tod am Tag der Premiere von Rent verleiht dem Film eine bittersüße Melancholie, die gut zum thematischen Umfeld passt.

Musikalisch ist tick, tick … Boom! leider nicht so gut wie Rent, enthält aber bereits alles, was den Erfolg des Stücks ausmacht. Und ja, wie es sich für ein zünftiges Musical gehört, wird ständig gesungen …

Inszenatorisch ist der Film nicht besonders erwähnenswert, eine grundsolide Arbeit, die vor allem von der Performance des Hauptdarstellers und der Begeisterung für das Musical lebt.

Note: 2-

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.