Am Ende wird es wild

Nach drei Tagen hieß es, Abschied zu nehmen von Yellowstone. Aber bevor wir den Park endgültig verließen, fuhren wir noch in seinen nördlichen Teil, um die dortigen Sehenswürdigkeiten zu bewundern. Unterwegs überholten wir sogar einige Jogger, und unwillkürlich musste ich mich fragen: Woher nehmen sie die Energie zum Laufen, wenn sie den ganzen Tag lang wandern? Oder fahren sie mit dem Wagen durch den Park und suchen nur die Highlights auf? Ich war jedenfalls froh, nach zwei anstrengenden Tagen überhaupt aus dem Bett zu kommen.

Die Entfernungen zwischen den Highlights in Yellowstone sind weit, dafür liegen auf dem Weg dorthin meistens noch andere Naturschönheiten, die man bewundern und erwandern kann. Unser erster Stopp war beim Tower Fall, einem beeindruckenden Wasserfall, der über einen kurzen Fußweg zu erreichen war. Zu dieser frühen Stunde waren wir sogar die einzigen Touristen dort. Auch sonst war in diesem Bereich des Parks nicht allzu viel los, liegen die Hauptsehenswürdigkeiten doch weiter im Süden.

Dabei hat der nördliche, abgelegenere Teil von Yellowstone eine Menge zu bieten. Das Gebiet um Mount Washburn ist wunderschön, mit weiten Tälern und sanften, grünen Hügeln vor dem Hintergrund hoher Felsformationen. Unsere Straße wand sich oft in engen Serpentinen die Berge hinauf, um auf der anderen Seite wieder hinabzuführen, und hinter jeder Kurve lagen neue, wunderschöne Landschaften.

Nach ein paar ungeplanten Zwischenstopps, beispielsweise am pittoresken, von Enten und Gänsen bevölkerten Floating Island Lake, weiteren rauschenden Wasserfällen oder auf einem Plateau, von dem aus man einen tollen Blick auf ein grünes Tal mit einem mäandernden Fluss hatte, gelangten wir schließlich zum Petrified Tree. Vor hundert Jahren gab es noch drei davon, doch rücksichtslose Souvenirjäger haben zwei restlos abgetragen. Deshalb befindet sich der letzte Überlebende nun in einem umzäunten Gebiet. Für mich sah das Ding wie ein alter Baumstamm aus, und ich hätte hier auch nicht unbedingt anhalten müssen, aber es bedeutete keinen Umweg.

Das Highlight des Tages war jedoch Mammoth Hot Springs. Die dortigen heißen Quellen enthalten besonders viel Kalk und Mineralien, die sich in Form von stufenförmigen Terrassen ablagern. Ähnliche Sinterterrassen gibt es auch im türkischen Pamukkale.

Inmitten der grünen Hügel wirken die schneeweißen Terrassen mit ihren braunen, orangenen, gelben und rosafarbenen Einfärbungen wie aus einer anderen Welt. Direkt davor befindet sich ein Sinterkegel, der wie eine Zipfelmütze aussieht – oder wie ein Sexspielzeug. Man kann unten parken und die Terrassen über Holzstege erkunden, wobei man immer wieder steile Treppen hinaufsteigen muss, oder, wie wir es gemacht haben, den Upper Terrace Drive mit dem Auto abfahren und am ersten Stopp die oberen Quellen abklappern. So spart man sich einige Höhenmeter und bekommt als Zugabe ein paar weitere Terrassen am Wegesrand.

Die Erkundung dieser Gegend ist moderat anstrengend, aber die Wege sind zum Glück nicht sehr weit. Weil wir noch nicht gefrühstückt hatten, wollten wir bei Mammoth Hot Springs ein frühes Mittagessen zu uns nehmen, aber das einzige Lokal dort war geschlossen, und auf die labberigen Sandwiches aus dem Souvenirshop hatten wir keine Lust.

Statt zu essen, fuhren wir daher den westlichen Teil der Grand Loop Road, die wie eine Acht sämtliche Teile des Parks verbindet, nach Süden und dann zum Ostportal von Yellowstone. Im Hayden Valley erwartete uns dann noch eine wunderbare Überraschung: Bisons! Zuerst sahen wir die üblichen Autos auf den Straßen stehen, die meistens auf die Anwesenheit eines Wildtiers auf einer angrenzenden Wiese hinweisen. Als wir die Stelle passierten, standen dort tatsächlich jede Menge Menschen mit Ferngläsern und Kameras, um einen weit entfernten braunen Fleck zu beobachten, von dem wir annahmen, dass es ein Bison war.

Wir fuhren weiter und trafen an einem See auf weitere Bisons, diesmal etwas näher an der Straße, weshalb wir einige Fotos schossen und unseren Weg fortsetzten. Nur hundert Meter weiter entdeckten wir dann an einem Fluss eine komplette Bisonherde, die dort friedlich graste und badete. Dutzende Menschen standen auf dem angrenzenden Parkplatz und der Straße, um sie dabei zu beobachten. Wieder machten wir einige Fotos und Video und fuhren weiter. Wir waren noch nicht weit gekommen, als plötzlich ein Bison im Gegenverkehr auftauchte und dicht an unserem Auto vorbeitrottete, um sich dann dahinter zu stellen und die gesamte Straße zu blockieren. Nichts ging mehr, nur wir konnten noch ungehindert weiterfahren. Wenig später sahen wir dann noch einen weiteren Bison am Waldrand liegen, machten uns aber nicht einmal mehr die Mühe, ein Foto zu schießen.

Der letzte Stopp im Park war der Lake Butte Overlook, von dem aus man vor allem einen tollen Blick auf den – Yellowstone Lake hatte. Warum man den Punkt nicht Lake Yellowstone Overlook nennt, kann ich mir nicht erklären. Schön ist es dort allemal.

Einige Meilen später hieß es dann tatsächlich, Abschied zu nehmen. Der Park hat uns einige der schönsten Fleckchen auf diesem Planeten offenbart, durch die schwüle Hitze, die vielen Steigungen und vor allem die drängelnden Menschenmassen aber auch einiges abverlangt. Am Ende überwiegen jedoch die positiven Erinnerungen.

Selbst wenn man all die heißen Geysire und farbenprächtigen Quellen weglassen würde, blieben immer noch malerische Täler mit sanft dahinschlängelnden Flüssen und Bächen übrig, schäumende Wasserfälle, reißende Stromschnellen, idyllische Seen, geheimnisvolle Wälder voller Bären, Elche und Bisons (deren Existenz können wir nun selbst bestätigen), sanfte, grüne Hügel und majestätische Berge sowie weite Wiesen voller Wildblumen. Yellowstone ist vielseitig und ändert ständig sein Gesicht, das macht den Park aber auch so reizvoll. Ich glaube, eines Tages werde ich hierher zurückkehren, um jene Straßen und Wanderwege zu erkunden, die in diesem Jahr geschlossen waren.

Auch der Weg vom Park nach Cody in Wyoming ist wunderschön. Man fährt durch malerische Täler mit braunen Felsen, die ein wenig an die Gegend um den Zion Nationalpark erinnern, nur dass sie nicht so rot sind.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Mark G. & Pi Jay in La-La-Land 2022 und verschlagwortet mit , von Pi Jay. Permanenter Link zum Eintrag.

Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.