Missing

2018 kam Searching in unsere Kinos, eine Geschichte über einen Vater, der nach seiner spurlos verschwundenen Tochter sucht, und der Clou war, dass die gesamte Story allein über Bildschirme erzählt wurde. Desktop-Movies sind die konsequente Weiterentwicklung der sogenannten Found-Footage-Filme, die mit Blair Witch Project oder Mann beißt Hund in den Neunzigern zu einiger Popularität erlangt sind. Spätestens seit der Erfindung des Smartphones sind Bildschirme in unserem Leben allgegenwärtig, so dass es den Machern leichter fällt, sie glaubwürdig in die Geschichte zu integrieren.

Mein Problem mit diesem Genre ist, dass die Qualität der Bilder auf der großen Leinwand einfach nicht genügt. Es fehlt zudem die klassische Kinoerfahrung, wenn man durchweg auf Laptops, Handys oder Überwachungskameras starrt. Daher habe ich mir den neuen Film der Searching-Produzenten nicht angesehen, als er im Februar letzten Jahres in unsere Kinos kam. Wir hatten allerdings auf einer Tradeshow die ersten zwanzig Minuten gesehen, so dass ich neugierig war auf den Rest, den ich nun bei Netflix nachgeholt habe.

Missing

June (Storm Reid) hat als Kind ihren Vater (Tim Griffin) verloren und wurde von ihrer Mutter Grace (Nia Long) allein aufgezogen. Seit einiger Zeit trifft sich Grace mit Kevin (Ken Leung) und fährt mit ihm für eine Woche nach Kolumbien. Doch als June sie wie geplant am Flughafen abholen will, tauchen die beiden nicht auf. Die Achtzehnjährige beginnt, auf eigene Faust zu recherchieren, und engagiert Javi (Joaquim de Almeida), damit er sich vor Ort umsieht. Bald stellt sie fest, dass Kevin eine kriminelle Vergangenheit hat.

Wie Searching beginnt auch Missing damit, dass Erinnerungen an einen verstorbenen Partner bzw. Elternteil erstellt werden. Junes Vater ist an einem Hirntumor gestorben, als sie noch klein war, und diese Fotos und Videos, die ihre Mutter für sie zusammengestellt hat, sind alles, was ihr von ihm bleibt, da sie kaum Erinnerungen hat. Ihr Verhältnis zu Grace ist ein wenig distanziert, weil June deren mütterliche Fürsorge zu viel wird und sie ihren Abnabelungsprozess vorantreibt. Deshalb verabschiedet sie sich nicht einmal richtig von ihr, sondern treibt lieber die Vorbereitungen für eine Hausparty voran.

Alles ändert sich, als June bewusst wird, dass ihre Mutter möglicherweise das Opfer eines Verbrechens geworden ist und sie sie vielleicht nie wiedersehen wird. Sowohl Mutter als auch Tochter werden solide dargestellt, die Psychologie der Figuren ist stimmig und glaubwürdig, und auch Junes charakterliche Entwicklung funktioniert einwandfrei. Dennoch kommt man den Figuren emotional nicht nahe, was möglicherweise mit der Tatsache zu tun hat, dass man aufgrund der Bildschirmaufnahmen alles wie durch einen Filter zu sehen bekommt, meist nicht perfekt ausgeleuchtet und von minderer Bildqualität, und vor allem aus einer physischen Distanz, die in der Natur der Sache liegt. Dynamische Schnittwechsel bei Dialogen, Nahaufnahmen und Schwenks sind nicht möglich, und dadurch entsteht emotionale Distanz.

Die Story selbst ist wie beim Vorgänger vollkommen solide. Wie es sich für einen Thriller gehört, gibt es Verdächtige, falsche Spuren und einige überraschende Wendungen. Die vier Drehbuchautoren verstehen ihr Handwerk, liefern aber auch ein etwas zu routiniertes Werk ab, dem ein wenig die Leidenschaft fehlt. Vor allem in der ersten Hälfte ist man als aufmerksamer Zuschauer der Hauptfigur ein gutes Stück weit voraus, aber ab der Mitte steuert die Geschichte auf eine Überraschung zu, die ein neues Licht auf das vorab Gezeigte wirft. Das ist clever gemacht.

Lediglich im Showdown lässt die Spannung ein wenig nach, das liegt zum einen an der Story, die nun wieder viel zu routiniert und wenig einfallsreich abgespult wird, zum anderen an den Einschränkungen in der Inszenierung. Als Zuschauer starrt man nur auf die grieseligen Bilder diverser Überwachungskameras, was in der Summe wenig befriedigend ist.

So faszinierend das Konzept des Desktop-Movies auch ist, beinhaltet die Umsetzung einige Mankos, die kein noch so gelungenes Skript wettmachen kann. Die Performance leidet, die Inszenierung auch, und die Macher sind ständig gezwungen, sich eine Situation auszudenken, die den Einsatz von Bildschirmmaterial rechtfertigt, was teilweise auf Kosten der Glaubwürdigkeit geht.

Wem Searching gefallen hat, der dürfte auch bei Missing gut unterhalten werden. Für einen gemütlichen Krimiabend auf der Couch ist es der richtige Film.

Note: 3

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.