Dolores

Wer meine Beiträge schon seit einigen Jahren liest, erinnert sich vielleicht noch an Film, Food & Fun – Mark G.s Beitrag zur filmhistorischen Bildung der jüngeren Generation, im speziellen Fall seiner Nichten und Neffen. Die meisten davon sind inzwischen erwachsen, kommen aber, wenn sie denn Zeit haben, immer noch gerne. Vor ein paar Jahren durfte ich auch dazustoßen, und mittlerweile bringen die „Kinder“ auch Freunde mit, so dass der Kreis immer größer wird. Irgendwann werden wie vielleicht Eintrittskarten verlosen müssen …

Traditionell finden diese Veranstaltungen immer zu Jahresbeginn statt, manchmal gibt es noch ein zweites Treffen, häufig zu Pfingsten, aber das ist seltener geworden. Heuer wurde der Termin sehr kurzfristig angesetzt, was zu Schwierigkeiten bei der Filmauswahl geführt hat. Whiplash war schon früh gesetzt, weil der vor ein paar Jahren im Kino allgemein übersehen wurde und eine Weiterverbreitung verdient. Erstaunlicherweise kannten den zwei Leute schon, wo denen ihn einer sogar als einen seiner Lieblingsfilme bezeichnete. Ach, es besteht also noch Hoffnung …

Frühstück bei Tiffany konnte hingegen nicht gezeigt werden, da ihn zu viele kannten (anscheinend lohnen sich die vielen Wiederholungen im Fernsehen doch). So wurde kurzerhand ein anderer Film ins Programm gehievt, der gut ankam:

Dolores

Selena (Jennifer Jason Leigh) reist zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder in ihr Heimatkaff auf einer Insel vor der amerikanischen Ostküste zurück, weil ihre Mutter Dolores (Kathy Bates) des Mordes an der reichen Witwe Vera (Judy Parfitt) beschuldigt wird, für die sie viele Jahre als Haushälterin gearbeitet hat. Viele Indizien sprechen für ihre Schuld, und Detective Mackey (Christopher Plummer) versucht verbissen, Dolores in die Ecke zu treiben, denn er hat noch eine Rechnung mit ihr offen: Vor vielen Jahren verdächtigte er sie bereits, ihren Ehemann (David Strathairn) ermordet zu haben – und auch Selena ist zunächst von der Schuld ihrer Mutter überzeugt …

Die Vorlage stammt von Stephen King, der damit einmal mehr bewiesen hat, dass er nicht nur Thriller mit übernatürlicher Note schreiben kann, sondern sich auch auf intensive Dramen versteht. Das Drehbuch wurde von Tony Gilroy verfasst, der sich später dann u.a. in den Bourne-Filmen als Meister der Spannung gezeigt und bei diesem Frühwerk seine Sache ausgesprochen gut gemacht hat.

Die Figuren sind exzellent gezeichnet und werden von den Schauspielern hervorragend interpretiert. Kathy Bates ist einfach perfekt in der Rolle der vom Leben gezeichneten, rauen und kratzbürstigen Haushälterin, der man sogar einen Mord zutrauen würde, zumal die Anfangsszene kaum einen Zweifel daran lässt, was geschehen ist. Aber so wie ihre entfremdete, beruflich als Journalistin ungemein erfolgreiche, privat aber psychisch extrem angeschlagene Tochter Selena, wird auch der Zuschauer bald eines Besseren belehrt.

Die Geschichte bekommt durch zahlreiche, ausführliche Rückblenden in die Zeit, als Dolores’ Ehemann unter mysteriösen Umständen ums Leben kam, eine zweite Erzählebene, die nicht weniger spannend ist als die ständigen Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter und die Nachstellungen durch die Polizei. Langsam wird dabei das harte Leben von Dolores entblättert, erfahren wir von körperlicher Misshandlung und Demütigungen, denen sie ausgesetzt war. So wächst einem die ruppige Frau immer stärker ans Herz. Überhaupt wird mit viel Mitgefühl für die einzelnen Figuren erzählt, die wie aus dem Leben gegriffen wirken.

Es ist in erster Linie ein Film über Frauen, insbesondere über Mütter und Töchter und ihr schwieriges Verhältnis zueinander. „Manchmal muss man als Frau ein Miststück sein, um in dieser Welt nicht unterzugehen“, lautet das häufig zitierte Motto, und so ist die Geschichte selbst über zwanzig Jahre hinweg immer noch von bestrickender und beklemmender Aktualität.

Der Film ist über die Zeit allerdings auch langsamer geworden, gerade in der ersten Hälfte braucht der heutige Zuschauer ein wenig Geduld, die sich aber im furiosen Finale, wenn die Wahrheit ans Licht kommt, mehr als auszahlt. Dramen wie diese werden heutzutage kaum noch gedreht, und wenn es um ähnliche Konflikte geht, erreichen sie fast nie diese vibrierende Intensität.

Ein Klassiker des modernen Kinos, den man gesehen haben sollte, wenn man starke Schauspieler und intensive Momente liebt.

Note: 2+

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.