22. Juli

Erst vergangene Woche ist es wieder passiert. In den USA gibt es in unschöner Regelmäßigkeit Amokläufer und Schusswaffenmassaker, vor einigen Tagen erst in Kalifornien. Bei uns kommen solche schrecklichen Ereignisse zum Glück seltener vor, strengen Waffengesetzen sei Dank. Außerdem hatten die meisten dieser Taten in den letzten Jahren eher einen terroristischen Hintergrund. Eines der schlimmsten Attentate ereignete sich vor mittlerweile sieben Jahren in Norwegen.

Dieses Jahr erschienen dazu gleich zwei Filme: Utøya 22. Juli ist ein norwegischer Film, der bei uns vor zwei Monaten in die Kinos kam, der andere wurde von Paul Greengras für Netflix inszeniert. Ich habe ihn mir angesehen.

22. Juli

Am 22. Juli 2011 verübt Anders Behring Breivik (Anders Danielsen Lie) zuerst einen verheerenden Sprengstoffanschlag auf das Regierungsviertel in Oslo, bevor er zur Insel Utøya fährt, um dort ein Massaker in einem Jugendcamp anzurichten. Eines seiner Opfer ist der junge Viljar (Jonas Strand Gravli), der durch mehrere Schusswunden schwer verletzt wird und lange braucht, um ins Leben zurückzufinden.

Die beiden terroristischen Anschläge in Norwegen gehören zu den schlimmsten der letzten Jahre in Europa, weil die überwiegende Mehrzahl der Opfer Jugendliche und Kinder waren. Die Perfidie des Täters, der sich als Polizist verkleidet hat, ist dabei kaum zu überbieten, und entsprechend schwer erträglich ist der erste, ungefähr halbstündige Teil des Films. Paul Greengras, der auch das Drehbuch verfasste, bleibt dabei seinem pseudo-dokumentarischen Stil treu und ist mit seiner Handkamera stets nah am Geschehen. Wir folgen dem Täter bei seinen Vorbereitungen und der Ausführung der Tat in Oslo, gleichzeitig schildert Greengras, wie die Jugendlichen auf der Insel ankommen und sich auf ein aufregendes Wochenende freuen. Dann führt er beide Handlungsstränge zusammen.

Der Rest des Films handelt von der juristischen Aufarbeitung der Tat. Wir sehen, wie Breivik verhaftet und vernommen wird, wobei die Behörden aufgrund seiner Aussage zunächst nicht wissen, ob er noch Komplizen hat und weitere Anschläge geplant sind. Später geht es um die Gerichtsverhandlung und auch um seinen Anwalt, der wider seine Überzeugung die Verteidigung übernimmt bzw. übernehmen muss und dafür massiv bedroht wird. Gleichzeitig verfolgen wir, wie Viljar mit den Folgen seiner Verletzung zu kämpfen hat, bevor er ganz am Ende Breivik vor Gericht gegenübertritt.

Sind die ersten dreißig Minuten kaum zu ertragen, schleichen sich im weiteren Verlauf des mit fast zweieinhalb Stunden langen – zu langen – Films einige Längen ein. Gerade die unaufgeregte, dokumentarische Inszenierung, die im ersten Teil perfekt passt, erweist sich später als Hindernis. Man kommt den Figuren, mit Ausnahme von Viljar, nicht richtig nahe, und da man anfangs auch Viljars Freunde nur unzureichend kennengelernt hat, ist seine Trauer um sie nur bedingt emotional nachvollziehbar.

Der Film stellt vor allem Fragen danach, wie man mit einem solchen Täter umgehen soll. Leiden rechte Verschwörungstheoretiker und Staatsfeinde generell an einer Art von Geisteskrankheit? Und wie weit darf man ihnen erlauben, sich vor Gericht in Szene zu setzen, offen um Anhänger zu buhlen und ihre Opfer zu verhöhnen? Wirkliche Antworten liefert Greengras nicht, aber das ist auch nicht seine Absicht. Ihm geht es vor allem um eine genaue Nacherzählung der Ereignisse, wobei er mit der Konzentration auf Viljar Partei für die Opfer ergreift. Breivik selbst kommt dabei etwas zu kurz; wie seine Anwälte und die Staatsanwälte kann man nur spekulieren, wie er zu einem Terroristen wurde.

Der gruseligste Moment des Films ist jedoch der Gerichtsauftritt eines weiteren Rechtsradikalen, der sich von Breiviks Massaker distanziert und ausführt, dass ihre Ziele andere und langfristigere sind: Sie wollen den Staat nicht herausfordern und bekämpfen, sondern übernehmen. Sieben Jahre nach den Ereignissen in Norwegen sind sie in manchen Ländern schon ein gutes Stück weiter …

Note: 3

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.