Die wandernde Erde

Der Film zählt zu den größten Erfolgen der chinesischen Kinogeschichte und erregte daher auch Aufmerksamkeit außerhalb des Reichs der Mitte. Hierzulande übernimmt Netflix die Auswertung, wo der Film seit rund einem Jahr in der OmU zu sehen ist. Ich war neugierig, wie diese an Roland Emmerichs Katastrophenfilme erinnernde Produktion wohl geworden ist. Allzu viel haben wir uns ja nicht erwartet, als wir – Mark G., Meister Mim und ich – uns das Werk zu Gemüte geführt haben. Die Frage war nur, ob es ein schlechter Film mit Kultcharakter oder einfach nur ein schlechter Film ist …

Die wandernde Erde

Die Sonne droht, sich in einen Roten Riesen zu verwandeln und die Erde zu verschlingen. Deshalb beschließt eine rasch gegründete Weltregierung, einen gewagten Rettungsplan umzusetzen: Die Erdrotation wird gestoppt, riesige Fusionskraftwerke gebaut, die für den nötigen Schub sorgen, um den gesamten Planeten zum Stern Proxima Centauri zu befördern. Eine Reise durchs All, die 2500 Jahre dauern soll, währenddessen die Menschheit in unterirdischen Städten überlebt. Als Liu Qi (Chuxiao Qu) ein kleiner Junge war, reiste sein Vater (Jing Wu) als Astronaut zur internationalen Raumstation, dem Navigationszentrum des Projekts. Nun, siebzehn Jahre später, steht er kurz vor seiner Rückkehr. Liu Qi büxt jedoch mit seiner Ziehschwester Duoduo (Jin Mai Jaho) aus, um zur Erdoberfläche zu gelangen. Gleichzeitig nähert sich die Erde dem Jupiter, dessen Anziehungskraft etliche Kraftwerke zerstört und das gesamte Unterfangen gefährdet. Weltweit werden Rettungsmissionen gestartet, um den Antrieb wieder in Gang zu setzen, und die beiden Ausreißer werden dabei kurzerhand rekrutiert …

Zhou Enlai, der erste chinesische Premierminister, antwortete in den frühen Siebzigerjahren einmal auf die Frage, was er über den Einfluss der Französischen Revolution denke, es sei zu früh, um sich ein Urteil darüber zu bilden. Dieses Zitat wird immer wieder benutzt, um herauszustellen, wie weitreichend das strategische politische Denken der chinesischen Regierung ist, die nicht nur für die Zeit bis zur nächsten Wahl plant, sondern sogar über Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte hinaus. Diese Denkweise passt jedenfalls gut zur Grundidee der Geschichte, die Erde zweieinhalb Jahrtausende durch das Weltall zu schleppen. Vorlage für das Drehbuch ist übrigens eine Kurzgeschichte von Liu Cixin, dem Autor der berühmten Trisolaris-Trilogie.

Natürlich erscheint diese Idee unter Einbeziehung streng wissenschaftlicher Erkenntnisse zunächst einmal als völlig gaga. Aber da das Problem und seine Lösung bereits vor dem Titel eingeführt und erklärt werden, kauft man als Zuschauer den Machern die Idee durchaus ab – selbst wenn sie jeglichem physikalischen Laienwissen spottet. In der Science-Fiction ist schließlich alles möglich, und das Bild des blauen Planeten, der sich langsam durch das Sonnensystem schiebt, ist überdies hübsch anzuschauen.

In der Geschichte geht es jedoch nicht um diese außergewöhnliche planetarische Rettungsmission, sondern um die Probleme, die nach einiger Zeit auftreten. Und die haben es in sich, denn nicht nur droht die Erde, mit Jupiter zu kollidieren, zudem wird auch seine Atmosphäre abgesaugt. Die Folge sind ausfallende Triebwerke und abstürzende Rettungsflugzeuge, die die dringend benötigten Teile zur Reparatur heranschaffen sollen.

Die Story fokussiert sich dabei auf die beiden jugendlichen Helden, die unverhofft in eine solche Rettungsmission hineingezogen werden. Das ist klug gewählt und ermöglicht dem Zuschauer einen Außenseiterblick auf die Ereignisse. Problematisch wird es jedoch, als ein gutes halbes Dutzend weiterer Figuren auftaucht, die ebenfalls zum Team gehören, aber aufgrund ihrer Raumanzüge nicht voneinander zu unterscheiden sind. Das erschwert es enorm, mit ihnen mitzugehen und an ihrem Schicksal Anteil zu nehmen, zumal nicht wenige von ihnen das Ende des Films nicht erleben. Was jedoch keinen hindert, nach seinem Ableben noch einen pathetischen Monolog im Off zu halten …

Es sind diese kleinen Merkwürdigkeiten, die man wahlweise den kulturellen Unterschieden in der Filmdramaturgie oder schlichtem Unvermögen zuschreiben kann. Dazu zählen der bisweilen skurrile Sinn für Humor, der vor allem in unpassenden Momenten zum Tragen kommt, die mitunter absurden Dialoge oder die Tatsache, dass fast ununterbrochen geredet und jede Handlung ausgiebig kommentiert wird. Eine Motivationsrede am Ende des Films, die dazu dienen soll, die letzten Reserven zu mobilisieren, ist beispielsweise so konfus geraten, dass sie nur für den Zuschauer verständlich ist, der den Film gesehen hat, aber für die anwesenden Zuhörer keinerlei Sinn ergibt. Der beste Dialog des Films, der in abgewandelter Form auch am Ende besagter Rede auftaucht, lautet: „Kommt, lasst uns den Jupiter anzünden!“ (Wie gesagt, man muss den Film gesehen haben, um dies zu verstehen). Er hat jedoch das Zeug zu einem Running Gag unter uns zu werden.

Aber wie ist er nun, dieser Film? So allgemein? Nun ja, er ist … ereignisreich. Ständig passiert etwas, es werden Pläne geschmiedet, um ein Problem zu lösen, wobei sich jedoch neue Hindernisse auftun und weitere Probleme ergeben, die gelöst werden wollen, bis sich am Ende herausstellt, dass nichts davon funktioniert, und man mit Plan B wieder von vorne beginnt. Pläne werden detailliert erörtert und dann fast umgehend wieder aufgegeben, und man sieht unentwegt die Figuren etwas tun, was ungeheuer anstrengend und meistens auch lebensgefährlich ist, aber man hat keine Ahnung, was genau sie da eigentlich machen. Das gilt vor allem für den hektischen Showdown, bei dem man wenigstens weiß, was das Ziel ist: Jupiter anzuzünden. Mehr muss man eigentlich auch nicht wissen.

Bei so viel Konfusität fallen die seltsam anmutenden Details und offensichtlichen Fehler schon gar nicht mehr ins Gewicht. Warum etwa die Rettungsmission, die nur ein Ersatzteil transportieren soll, bis an die Zähne bewaffnet ist. So wie die Raumstation, die möglicherweise mit einem Alienangriff rechnet, dann aber von innen von einem Computer bedroht wird, der so fürsorglich ist, dass einem angst und bange werden kann. Hat man schon mal gesehen, funktioniert aber immer noch.

Es ist auf jeden Fall ein sehr chinesischer Film. Das sieht man schon an den Warnhinweisen beim Starten der Transport-LKW, die an Effizienz gemahnen und bei Fehlverhalten mit der Auslöschung der Familie drohen. Zumindest habe ich das so verstanden, aber vielleicht gibt es noch andere Interpretationsmöglichkeiten. Vielleicht bin ich ja auch kapitalistisch indoktriniert. Definitiv sehr chinesisch ist die Aussage des Films, die das Kollektiv über alles stellt und vom Individuum vor allem eines verlangt: Selbstaufopferung. Und es opfern sich im Verlauf der Geschichte eine ganze Menge Menschen …

Der Regisseur Frant Gwo hat übrigens vor dem Start angekündigt, dass man eine Fortsetzung drehen wolle, falls der Film erfolgreich sein würde. Da er in China mit über 104 Millionen Besuchern zum dritterfolgreichsten Film aller Zeiten wurde, sollte dies wohl kein Problem darstellen – schließlich ist die Erde ja noch ein Weilchen unterwegs.

Zhou Enlais Zitat übrigens wurde seit den Siebzigern immer missverstanden, denn der Politiker bezog sich, anders als vermutlich der fragende Journalist, auf die französischen Studentenunruhen Ende der Sechzigerjahre …

Note: 4

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Pi Jays Corner und verschlagwortet mit von Pi Jay. Permanenter Link zum Eintrag.

Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.