Einsam Zweisam

Es wurde schon viel über die Anonymität der Großstädte geschrieben und erzählt, über die Einsamkeit, die man selbst in den größten Menschenmengen empfinden kann, die Sehnsucht nach Nähe und Intimität, obwohl man täglich in den Bussen und U-Bahnen an Fremde gepresst wird. Das alles ist inzwischen Teil unseres Lebens, und manchmal auch der Beginn einer romantischen Liebesgeschichte.

Cédric Klapisch macht gerne Filme über menschliche Beziehungen und romantische Verwicklungen, zumeist mit der typisch französischen Leichtigkeit, gepaart mit einem kräftigen Schuss Realismus. Bei ihm sehen die Appartements nicht so aus, als wären sie von einem bekannten Innenarchitekten designt worden oder als würden ihre Bewohner entweder in einer Modelagentur arbeiten oder intellektuellen Berufen nachgehen, und gerade das macht sie so sympathisch …

Einsam Zweisam

Als Rémy (François Civil) erfährt, dass seine Kollegen aus der Lagerverwaltung entlassen werden, er als einer der wenigen jedoch in die Serviceabteilung versetzt wird, hat er ein schlechtes Gewissen. Der junge Mann leidet unter einem wenig ausgeprägten Selbstwertgefühl, und als er kurz darauf mit einer Panikattacke zusammenbricht, unterzieht er sich einer Psychotherapie, um sich mit seinen Ängsten und Verletzungen in der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Auch Mélanie (Ana Girardot) macht eine Psychoanalyse, weil sie über die Trennung von ihrem letzten Freund nicht hinwegkommt und sich depressiv fühlt. Obwohl eine begabte Biologin, die in der Krebsforschung tätig ist, mangelt es ihr an Selbstbewusstsein. Um ihren Ex zu vergessen, meldet sie sich bei einer Dating-App an und stürzt sich Hals über Kopf in eine Reihe flüchtiger Beziehungen.

Man sollte bei dem Film keine Liebesgeschichte erwarten, zumindest keine im herkömmlichen Sinn. Rémy und Mélanie haben zwar eine ganze Menge gemeinsam, abgesehen von ihrer recht ähnlichen depressiven Grundstimmung, wegen der sie sich in Therapie begeben, wohnen sie Wand an Wand, allerdings in verschiedenen Häusern. Sie sitzen nebeneinander in der U-Bahn, begegnen sich auf dem Weg zur Haltestelle und kaufen im selben Laden ein. Ein zufälliges Kennenlernen wäre jederzeit möglich, aber jeder ist zu sehr mit sich beschäftigt, um auf den anderen zu achten.

Viel passiert in der Geschichte nicht. Rémy bekommt irgendwann eine Katze geschenkt, die ihm wegläuft und bei Mélanie landet. Diese erlebt einige skurrile Abenteuer mit ihren Lovern, und auch Rémy versucht, mit einer Kollegin anzubandeln, aber in erster Linie handelt der Film davon, dass beide sich zuerst selbst akzeptieren und lieben lernen, bevor sie bereit sind, sich auf einen anderen einzulassen. Man könnte auch sagen, dass die Story ein Lobgesang auf die Psychoanalyse ist, aber das wäre ein wenig unfair, da es um so viel mehr geht. Um unsere Selbstbezogenheit oder das Dilemma mit den sozialen Medien beispielsweise, aber auch um Wunden, die uns in der Kindheit zugefügt wurden und die dazu geführt haben, dass wir mit uns selbst hadern.

Ob und wann Rémy und Mélanie zusammenfinden, spielt dabei keine Rolle, denn in erster Linie geht es um die Selbstfindung zweier Menschen. Das wird insgesamt langsam erzählt, besitzt auch die eine oder andere Länge, ist aber sehr sehenswert. Mit der Zeit entfaltet sich ein Zauber des Alltäglichen, der einen gefangen nimmt und noch lange nachwirkt. Ein schöner Film.

Note: 3+

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.