Black Widow

Für die Marvel-Süchtigen war 2020 doppelt hart, und ihre Entzugserscheinungen wurden nur durch die Serien abgemildert, die bei Disney+ erschienen sind. Aber die Durststrecke ist ja nun zu Ende, und man kann die Avengers wieder auf der großen Leinwand bewundern, zumindest eine von ihnen.

Wie alle fiktionalen Helden und Heldinnen ist auch Black Widow ein Kind ihrer Zeit. „Geboren“ auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges 1964 und als Geheimagentin mit tödlichen Waffen ausgestattet, die auf den ersten Blick harmlos wirken, ist sie so etwas wie ein sowjetischer James Bond (oder Jane Bond?).

Die UdSSR ist nun zwar schon lange Geschichte, aber Russland ist den USA als Gegner erhalten geblieben. Von Natasha Romanoff, die das erste Mal in Iron Man 2 aufgetaucht ist, wusste man bislang nur, dass sie irgendwann zu S.H.I.E.L.D. übergelaufen ist, aber im Gegensatz zu Tony Stark, Thor und den meisten anderen Mitgliedern der Avengers hat sie nie einen eigenen Origin-Film bekommen. Weil sie nur eine Heldin aus der zweiten Reihe ist wie Hawkeye? Oder gar, weil sie eine Frau ist? Höchste Zeit also, endlich für etwas mehr Gleichberechtigung zu sorgen, könnte man meinen. Dummerweise wissen wir seit Avengers: Endgame, dass Natasha auf Vormir einen heldenhaften Tod gefunden hat, was die Bemühungen nicht nur zu spät, sondern auch obsolet erscheinen lassen.

Black Widow

1995 lebt Natasha (Ever Anderson) mit ihrer Schwester Yelena (Violet McGraw) und ihren Eltern Melina (Rachel Weisz) und Alexei (David Harbour) in Ohio. Doch eines Abends müssen sie überstürzt fliehen und das Land verlassen, denn ihre sorgsam aufgebaute Fassade ist zusammengebrochen: In Wahrheit sind Melina und Alexei russische Top-Spione, die mit den beiden Waisenkindern nach Amerika geschickt wurden, um wissenschaftliche Arbeiten zu stehlen. Nach ihrer Ankunft auf Kuba werden sie von General Dreykov (Ray Winstone) in Empfang genommen, der die Mädchen für sein Black Widow-Programm rekrutiert.

21 Jahre später ist Natasha (Scarlett Johansson) nach dem Zerwürfnis der Avengers auf der Flucht vor der Staatsgewalt. Als sie ein mysteriöses Päckchen von Yelena (Florence Pugh) erhält und kurz darauf von einer maskierten Gestalt mit besonderen Fähigkeiten angegriffen wird, macht sie sich auf die Suche nach ihrer „Schwester“ …

Der bemerkenswerteste Satz fällt gegen Ende des Films, wenn Natasha konstatiert, dass sie immer dachte, sie hätte keine Familie, dass sie nun aber entdeckt hat, dass sie eigentlich sogar zwei besitzt. Die eine sind natürlich die Avengers, die im Laufe ihrer Zusammenarbeit tatsächlich bestimmte familiäre Züge angenommen haben, von der anderen erzählt dieser Film. Natürlich ist es kein Zufall, dass die Geschichte zu einem Zeitpunkt beginnt, an dem die eine Familie vollkommen zerstritten ist, und Natasha von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Ihre Ziehschwester Yelena stellt später, wenn sie Melina und Alexei gefunden haben und sich mit ihnen verbünden, fest, dass die drei Jahre mit ihnen in Ohio die glücklichsten ihres Lebens waren. Dabei wissen alle Beteiligten, dass dieses Leben damals nicht echt war, nicht einmal die Fotos in ihrem Familienalbum.

Manchmal ist die Simulation realistischer als die Wirklichkeit. Vor allem für die beiden Mädchen, die ohne Eltern in der Obhut des Staates aufgewachsen sind und sich nach Liebe und dem Gefühl, irgendwo dazuzugehören, sehnen. Das ist etwas, das die meisten Superhelden eint und von dem die Comicverfilmungen immer wieder erzählen, jenem Gefühl des Außenseitertums und der Andersartigkeit. Und genau deshalb lieben wir sie.

Black Widow erzählt aber nicht nur von dysfunktionalen oder selbstgewählten Familien, sondern vor allem etwas über die Objektifizierung der Frau. Sowohl Natasha als auch Yelena wurden als Kinder ihren Familien weggenommen und von dem machthungrigen Dreykov manipuliert. In gewisser Weise wurden sie auch Opfern von Menschenhandel, nur zwang man sie nicht zur Prostitution, sondern zum Morden, machte damit aus ihnen auch Täter. Doch Dreykov ist noch perfider als die Mafia, denn er nimmt den Frauen nicht nur das Selbstbestimmungsrecht über ihre Körper, sondern auch ihren freien Willen. Schlimmer noch als dressierte Hunde müssen sie seinen Befehlen gehorchen und sind nicht einmal mehr in der Lage, gegen ihn aufzubegehren.

Es scheint, als habe Hollywood etwas aus der #MeToo-Debatte und dem Weinstein-Skandal gelernt. Black Widow wirkt stellenweise wie eine einzige Entschuldigung an das weibliche Geschlecht. Und ganz nebenbei zeigt die Regisseurin Cate Shortland, dass Frauen nicht nur spannende Actionfilme inszenieren, sondern vor allem auch tragen können. Der Film ist eine Antwort auf das Macho-Universum eines James Bond (das zugegebenermaßen nicht mehr ganz so testosterongesteuert ist wie früher) und beweist, dass Frauen genauso hart zuschlagen, aber auch Empathie zeigen können, wo es nötig ist.

Der Film ist anders als die üblichen Marvel-Stoffe, er erzählt mehr eine Spionagegeschichte, die gut aus der Zeit des Kalten Krieges stammen könnte, er beruft sich auf die Ursprünge von Black Widow ist aber mehr als die übliche Origin-Story, weil Natasha bereits als Avenger ihren Weg und ihren Platz gefunden hat. Er versöhnt die Figur vielmehr mit ihrer problematischen Vergangenheit, schließt einige Lücken in dem Verständnis, das man von ihr hat, und spannt am Ende sogar einen Bogen in eine Zukunft ohne sie. Kurz gesagt, es ist der Film, den diese Figur verdient hatte.

Note: 3+

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.