Mare of Easttown

Zu den Serien, über die 2021 am häufigsten berichtet wurden, gehört die HBO-Produktion Mare of Easttown, die bei der Emmy-Verleihung im September etliche Preise einheimsen konnte. Verglichen mit Squid Game, der Netflix-Sensation mit dem größten popkulturellen Einschlag der jüngsten Vergangenheit, ist dieses Crime-Drama verhältnismäßig altmodisch konzipiert. Ander als die Serie Squid Game, die ich insgesamt recht durchwachsen fand, stellenweise ziemlich gut, stellenweise aber auch kindisch-albern und insgesamt etwas zu bemüht in ihrer Gesellschaftskritik, finde ich Mare of Easttown bemerkenswert genug, um darüber ein paar Worte zu verlieren.

Im Mittelpunkt der Ereignisse steht die Polizistin Mare Sheehan (Kate Winslet), die in der Kleinstadt Easttown in Pennsylvania den Mord an einer 17jährigen Mutter aufklären will, die erschossen in einem Bach aufgefunden wird. Ein Jahr zuvor ist bereits eine weitere junge Frau verschwunden, die Tochter einer alten Freundin von Mare, die die Beamtin für das Versagen der Behörden in dem Fall verantwortlich macht.

Sowohl der Vermissten- als auch der Mordfall sind nüchtern betrachtet nichts Besonderes. Fälle wie diese gibt es in den diversen wöchentlichen Filmen und Krimiserien zuhauf. Im Verlauf der sieben Folgen klärt Mare selbstverständlich beide Fälle auf, und das ist sehr solide und sogar mit einigen überraschenden Wendungen erzählt. Aber es ist nicht ein raffinierter Krimi-Plot, der die Serie vom Gros der anderen unterscheidet.

Obwohl dem Genre zugetan, bin ich kein großer Fan von den meisten Krimiserien, weil sie sich zu sehr auf die jeweiligen Fälle der Woche konzentrieren und zu wenig originell sind. Ausnahmen stammen meistens aus Großbritannien. Die Briten haben ein Händchen dafür, interessante Ermittlerfiguren oder -teams zu erschaffen, denen man gerne dabei zusieht, wie sie selbst die durchschnittlichsten Fälle aufklären. Zu meinen Favoriten gehören hier vor allem Line of Duty und Happy Valley. Und nun Mare of Easttown.

Es ist aber nicht nur Kate Winslet zu verdanken, dass diese Miniserie etwas Besonderes ist. Sicher, ihre Figur ist das schlagende Herz dieser Produktion, doch sie macht es dem Zuschauer nicht gerade einfach, sie zu mögen. Denn Mare ist ruppig, abweisend und strahlt eine geradezu düstere Energie aus. Das bekommt anfangs vor allem ihr neuer Kollege Colin Zabel (Evan Peters) zu spüren, der sie in dem Mordfall unterstützen soll, aber auch ihre eigene Familie leidet darunter.

Man lernt Mare mit der Zeit jedoch besser kennen und versteht, woher ihre stille Wut und ihre tiefe Traurigkeit stammen: Ihr drogenabhängiger Sohn hat sich vor zwei Jahren das Leben genommen, und Mare steht nun vor einem unangenehmen Sorgerechtsprozess mit seiner Freundin (Sosie Bacon), die das gemeinsame Kind, um das sich die Polizistin kümmert, wieder in ihre Obhut nehmen möchte. Um sie zu unterstützen, ist Mares Mutter (Jean Smart) zu ihr gezogen, doch die Beziehung zu ihr ist seit jeher problematisch und voller unausgesprochener Ressentiments. Gleichzeitig beweist Mares Ex-Mann (David Denman), dass er über den Tod ihres Kindes und die Trennung hinweg ist, indem er seine Verlobung verkündet. Weil Mare unfähig ist, über ihren Kummer zu reden, und unwillig, sich Hilfe zu suchen, steuert sie geradewegs auf eine Implosion ihres Lebens zu.

Das große Thema, das nicht nur die beiden Fälle und Mares Privatleben verbindet, sondern sich wie ein roter Faden durch alle Beziehungen in der Serie zieht, ist das schwierige Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Easttown ist das andere Amerika, das man eher selten zu sehen bekommt, kein Hochglanzprospekt über easy living und den american way of life, den uns Hollywood sonst gerne verkauft, sondern ein sezierender Blick auf das kleinstädtische Arbeitermilieu. Die Menschen sind bodenständig, häufig mit ihrem Leben überfordert, sie trinken zu viel, manche sind drogenabhängig und viele haben keine rechte Perspektive.

Es gibt eine Menge Schmerz in dieser Stadt, aber auch Solidarität und zwischenmenschliche Wärme. Mare kennt alle Einwohner, und sie kennen die Polizistin, was ihre Ermittlungen nicht immer einfach macht. Es gibt kein Gut und kein Böse, kein Schwarz und Weiß, sondern eine Menge Grautöne, Menschen, die aus Liebe zu Verbrechern werden, die anderen wehtun, weil sie den Schmerz und die Traurigkeit ihres eigenen Lebens nicht mehr aushalten. Der einzige Bilderbuch-Schurke, der auftaucht, spielt nur eine untergeordnete Rolle, und er stammt nicht einmal aus Easttown.

Drehbuchautor Brad Ingelsby hat mit dieser Serie einen modernen Klassiker geschaffen, der viel über das zeitgenössische Amerika erzählt, aber gleichzeitig eine Vielzahl genauer Einzelporträts zeichnet, der einen spannenden Kriminalfall mit einem genau beobachteten Psychogramm seiner Ermittlerin kombiniert und dabei von Folge zu Folge einen stärkeren Sog entwickelt. Die darstellerischen Leistungen sind durch die Bank großartig. Neben den bereits Genannten brillieren noch u.a. Julianne Nicholson und Guy Pearce, und sie alle hauchen den wunderbar geschriebenen Figuren Leben und Wärme ein.

Die Serie ist im Sky Ticket enthalten.

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.