Zeitreisen in Nebraska

Manche US-Bundesstaaten kenne ich besser als andere. In Kalifornien habe ich insgesamt mehrere Monate verbracht, in Nevada, Arizona, Utah und New Mexico war ich häufiger wandern, aber darüber hinaus gibt es noch viel Terra incognita. Manche Staaten habe ich zwar durchquert, aber nicht wirklich kennengelernt, weshalb mein Eindruck von ihnen oberflächlich ist. Idaho verbinde ich mit dunklen Wäldern und Dauerregen, Florida mit schnurrgeraden Straßen, flankiert von dichten Wäldern. Und nun Nebraska.

Bevor wir dorthin gelangten, mussten wir noch den Süden von South Dakota durchqueren. Am frühen Morgen ging es noch einmal in den Custer State Park (und wieder diese Einfallslosigkeit: unzählige Straßen, Hotels, eine Stadt, besondere Landmarken, Bowlingbahnen und Hundehütten sind nach Custer benannt, der trotz oder vielleicht gerade wegen seiner Niederlage am Little Bighorn als Held verehrt wird, heute aber differenzierter betrachtet werden müsste, insbesondere seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit). Wieder passierten wir Keystone, dieses Touristenstädtchen im Herz der Black Hills, das nur etwas über zweihundert Einwohner besitzt, aber gefühlt ungefähr dreihundert Geschäfte und Hotels. Die Hauptstraße besteht nur aus Souvenirshops und Restaurants, die zu der frühen Stunde wie ausgestorben war. Es sah aus wie die Kulisse eines Katastrophenfilms.

Die Iron Mountain Road führt noch einmal durch diese wunderschöne Landschaft mit ihren zerklüfteten Felsen, dichten Wäldern – und engen Serpentinen. Es gibt einige Straßentunnel, durch die man direkt auf Mount Rushmore blicken kann, und sogenannte Pigtails Bridges, die sich wie ein geringelter Schweineschwanz nach oben winden und auf denen man bequem und ohne starke Steigung auf eine Anhöhe gelangt.

Unser erstes Ziel war die Wildlife Loop Road im State Park, die durch offene Prärie führt, auf der zahlreiche Wildtiere leben. Das erste Reh tauchte bereits kurz vor der Parkeinfahrt auf – und sollte für eine ganze Weile unsere einzige Begegnung mit einem Wildtier bleiben. Hatten die Tiere sich von der Straße zurückgezogen? Und waren wir vergeblich so früh aufgestanden, um sie zu sehen? Doch zuletzt tauchten sie doch noch auf, zuerst einige Gabelböcke, die vor unserem Wagen die Straße überquerten, dann trafen wir auf eine Gruppe Bisons, die ebenfalls gerade die Straßenseiten wechselten, und bevor wir den Park wieder verlassen haben, sahen wir noch eine riesige Kolonie von Präriehunden. Insgesamt ein empfehlenswerter Abstecher.

Anschließend ging es weiter nach Süden. Die Landschaft veränderte sich dramatisch, die himmelstrebenden Granitnadeln verschwanden als erste, dann wurden die Berge immer flacher, um schließlich in eine weite Prärieebene überzugehen, die vornehmlich von Viehzuchtbetrieben dominiert wird. Statt majestätischer Bisons sahen wir nur noch profane Kühe, die auf eingezäunten Weiden friedlich grasten. Hübsch, aber auch eintönig.

Ich habe vorher bereits von unseren technischen Schwierigkeiten berichtet. Unser linkes Vorderrad verliert immer noch Luft und muss regelmäßig aufgepumpt werden, und jetzt scheint es, als wollte unser Navi uns umbringen. Wir sind bereits mehrmals in Sackgassen gelandet oder zumindest nicht dort, wohin wir fahren wollten. Natürlich steckt keine finstere Absicht dahinter, sondern ein Algorithmus, der einfach nur den direktesten und kürzesten Weg sucht.

Diesmal führte uns der kürzeste Weg in die tiefste Provinz. Offiziell war es ein Highway, allerdings mit einer dreistelligen, also nachgeordneten Nummer. Wir gelangten in ein Dorf, das uns mit einem Plakat empfing, auf dem stand: „F…ck Biden“ mit einer entsprechenden Graphik. In diesem Moment war ich sicher, dass wir, sollte jemand unser kalifornisches Nummernschild entdecken, beschossen werden würden. Dazu kam es zwar nicht, aber wohl habe ich mich nicht gefühlt. Wir sind früher schon durch ähnliche Orte in Texas gefahren: Die Fassaden der Häuser verwittert, die Fenster mitunter zugenagelt, die Vorgärten voller Gerümpel. Wären nicht die relativ neuen Autos gewesen, man hätte meinen können, der Ort wäre bereits vor Jahren aufgegeben worden. Nie im Leben käme man auf die Idee, noch in den USA zu sein. Irgendwie war es, als hätte wir eine Zeitreise in die Mitte des 20. Jahrhunderts unternommen: kein Internet, keine Mobilfunkverbindung, nicht einmal ordentliche Straßen …

Nachdem wir zwei dieser Ansammlungen von Gebäuden, die Ort zu nennen zu schmeichelhaft wäre, passiert hatten, klärte uns ein Schild über einen Umstand auf, den wir bereits selbst sehen konnten: „Road unpaved“. Okay. Und natürlich hatten wir in der Pampa kein Internet, um nach einer Alternativroute zu suchen.

Mit unserem Mietwagen dürfen wir streng genommen keine unbefestigten Straßen befahren, aber uns blieb nichts anderes übrig. Zum Glück war die Straße in einem guten Zustand, so dass wir sicher unser Ziel erreichten, aber ganz wohl war uns dabei nicht. Diese Strecke und auch die nachfolgende Fahrt quer durch den Staat hat mein Bild von Nebraska geprägt: Links Prärie, rechts Prärie und dazwischen eine endlos lange Straße in schlechtem Zustand. Zu sehen gab es auch nichts, nur eine Farm nach der anderen und dazwischen eine Menge Kühe. Gelegentlich ein Feld mit Sonnenblumen.

Auf unserer Agenda stand ursprünglich noch ein Abstecher zum Toadstool Geological Park – der jedoch nur über unbefestigte Straßen zu erreichen war. 40 weitere Kilometer auf einer holperigen Straße? Nein, danke!

Immerhin hatte das den Vorteil, dass wir früher in Gering ankamen. In der Nachbarschaft liegt Scotts Bluff National Monument, das einerseits eine Landmarke ist (bluff bedeutet so viel wie Klippe), andererseits eine Art Denkmal. An dieser Stelle mussten die Siedler des Oregon Trails das Gebirge überqueren, was zur damaligen Zeit nicht ganz einfach war. Noch heute zeugen die tiefen Rillen im Gestein von den Planwagen, die den Berg hinauf- und wieder heruntergerumpelt sind. Wir benutzten dafür eine – wunderbar asphaltierte und gut ausgebaute – Straße, um vom Berggipfel einen Blick auf das prosperierende Städtchen Scottsbluff zu werfen. Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass die Namensgebung hier nicht sehr einfallsreich ist?

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Mark G. & Pi Jay in La-La-Land 2022 und verschlagwortet mit , , , , von Pi Jay. Permanenter Link zum Eintrag.

Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.