Vermutlich habe ich es schon viele Jahre lang nicht mehr geschafft, mir alle Filme, die für den Oscar als Bester Film nominiert waren, zeitnah zur Preisverleihung anzuschauen. Heuer ist es mir gelungen, allerdings nicht aus Absicht. Die letzte Produktion, die mir noch fehlte, war Die Nickel Boys, von der ich bis zur Oscarverleihung noch nie gehört hatte, schließlich lief sie bei uns nicht einmal im Kino. Ich glaube, ich habe noch nicht einmal den Trailer gesehen. Aber auf der Suche nach einem Werk, das gut in die dieswöchige Reihe passt, bot es sich einfach an.
Die Nickel Boys
Elwood (Ethan Herisse) wächst in den Sechzigerjahren behütet bei seiner Großmutter (Aunjanue Ellis-Taylor) auf, zu der ihn seine alkoholkranke Mutter in Pflege gegeben hat. Weil er gut in der Schule ist, bekommt er ein Stipendium für ein College, und tritt die Reise per Anhalter an. Doch der Mann, der ihn mitnimmt, hat den Wagen gestohlen, und Elwood kommt als Mittäter in eine Jugendbesserungsanstalt in Florida: Die Nickel Academy. Dort ist er harten Strafen und schwerer Arbeit ausgesetzt, hofft aber, dass er mit Hilfe seines Anwalts noch seine Unschuld beweisen kann. Außerdem findet er in Turner (Brandon Wilson) einen Freund fürs Leben.
Über die Bürgerrechtsbewegung, die Rassendiskriminierung und die harsche Jim-Crow-Gesetzgebung in den Südstaaten der USA hat es schon eine Menge Filme gegeben, auch Randthemen, die sich mit Schwarzer Geschichte beschäftigen, haben unser Wissen in den letzten Jahrzehnten erweitert, wie etwa über die Beteiligung schwarzer Frauen am Raumfahrtprogramm in Hidden Figures. Dennoch gibt es immer noch historische Aspekte, die selbst dem interessierten Mitteleuropäer fremd sind.
Die Vorlage zu diesem Film stammt aus der Feder von Colson Whitehead, der 2020 dafür den Pulitzerpreis bekam, und grundsätzlich ist es eine starke Geschichte über Diskriminierung und Ungerechtigkeit. Ein unschuldiger junger Mann, dem eine glänzende Zukunft bevorstehen könnte, wird allein aufgrund seiner Hautfarbe zu einer langen Strafe verurteilt. Theoretisch ist die Nickel Academy nicht einmal ein Gefängnis, sondern eine Besserungsanstalt, aus der man, wenn man sich an die Regeln hält und nicht auffällig wird, nach einiger Zeit entlassen werden kann. Nur passiert dies nie, weil die Einrichtung an ihren jungen Insassen gut verdient, vor allem an den schwarzen.
Die tief verankerte soziale Ungerechtigkeit ist in jeder Szene zu spüren. Die weißen Jungen dürfen Football spielen, bekommen eine Ausbildung und werden insgesamt besser untergebracht und verpflegt, während die schwarzen schwere Arbeiten verrichten müssen und mangelernährt sind. Gewalt und harte Strafen, etwa das Einsperren in einer engen, stickigen Dachkammer im Hochsommer, sind an der Tagesordnung, und auch sexueller oder körperlicher Missbrauch scheint es gegeben zu haben. Sogar Mord.
Es braucht also nicht viel, um diese himmelschreiende Ungerechtigkeit zu thematisieren und das erschreckende Leid der jungen Menschen in eine packende und spannende Geschichte zu gießen, die jeden Zuschauer emotional tief bewegt. Umso erstaunlicher ist es, dass Regisseur RaMell Ross, der zusammen mit Joslyn Barnes, das Drehbuch schrieb, so wenig aus dem Stoff macht.
Vielleicht liegt es daran, dass dies das Spielfilmdebüt des preisgekrönten Dokumentarfilmers ist, der wenig Ahnung von den Möglichkeiten und Strukturen eines Spielfilms hat oder diesen zutiefst misstraut. Vielleicht liegt es auch an den künstlerischen Ambitionen, dem Ehrgeiz, aus diesem Film große Kunst zu machen. Großes Kino ist es jedenfalls nicht, das beginnt schon mit dem merkwürdigen, nahezu quadratischen Bildformat, wodurch sich Ross in seiner Darstellung unnötig beschneidet. Auch der Einfall, den Großteil des Films mit einer subjektiven Kamera zu erzählen, ist problematisch.
Am Anfang erscheint diese Subjektive noch als originelle Idee. Man sieht Elwood heranwachsen, indem sich die Kamera stets auf seiner Augenhöhe bewegt und man nur zu sehen bekommt, was auch er sieht. Wie Elwood ausschaut, erfährt man erst relativ spät durch eine Reflexion im Glas oder ein Foto. Hätte Ross anschließend diese Subjektive aufgegeben, hätte man diese Sequenz für einen gelungenen Anfang halten können.
Tatsächlich ist die Idee, einen kompletten Film mit einer subjektiven Kamera zu erzählen, nicht neu. Der erste war vermutlich Die Dame im See von 1947, und schon damals wirkte diese Herangehensweise etwas bemüht und in sich nicht schlüssig. Es wird gerne behauptet, dass durch diese Technik der Zuschauer intensiver am Geschehen teilnehmen und sich stärker mit der Figur identifizieren würde, aber das stimmt nicht. Wenn man nie das Gesicht der Hauptfigur sieht, kann man auch nur selten nachvollziehen, was diese gerade fühlt. Man bekommt kein Gespür für die Figur.
Ross scheint dies geahnt zu haben, denn er wechselt mit dem Kennenlernen von Elwood und Turner plötzlich die Perspektive. Statt einer gibt es nun zwei subjektive Kameras, die sich immer wieder abwechseln. So bekommt man endlich Elwoods Gesicht zu sehen, nähert sich der Figur aber dennoch nur marginal an. Es ist einfach zu spät und wird im weiteren Verlauf noch für Verwirrungen sorgen, weil man manchmal nicht genau weiß, aus welcher Perspektive erzählt wird, was in erster Linie damit zu tun hat, dass man die Gesichter der beiden Figuren nicht so gut kennt.
Es ist nicht das einzige Verwirrende an diesem Film. Ross montiert in seine Geschichte auch Szenen aus dem Film Flucht in Ketten sowie dokumentarische Archivaufnahmen von Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung, der Elwood nahesteht. Letzteres ist zur Untermalung des historischen Hintergrunds nicht schlecht, wirkt aber stellenweise willkürlich. Noch seltsamer ist, dass er auch immer wieder Szenen aus den damaligen Medien zwischenschneidet, die sich mit der Raumfahrt, insbesondere mit den frühen Apollo-Missionen beschäftigen. Es wird nie erklärt, aber es ist anzunehmen, dass der Regisseur auf Scott Herons berühmtes Gedicht Whitey on the Moon anspielt, in dem die unterschiedlichen Lebenswelten der weißen und der schwarzen US-Bevölkerung Ende der Sechziger thematisiert werden. Ohne dieses Hintergrundwissen erscheinen diese wiederholten Einschübe jedoch einfach nur bizarr.
In der zweiten Hälfte des Films kommt es zudem zu abrupten Zeitsprüngen, die den Erzählfluss unangenehm unterbrechen. Plötzlich und auf den ersten Blick völlig unmotiviert befindet man sich in den späten Achtzigern. Aus der subjektiven Kamera wird eine objektive, die jedoch den Hauptdarsteller immer nur von hinten zeigt, so dass man einfach nicht weiß, ob es sich dabei um Elwood oder Turner handelt. Er trifft einen weiteren Insassen der Nickel Academy, und im Gespräch deuten sich einige schreckliche Ereignisse an, die wohl für Spannung sorgen sollen und dies vermutlich auch täten, wüsste man, um wen es geht. Und wenn man glaubt, man hat sich einigermaßen zurechtgefunden, springt die Handlung weitere rund zwanzig Jahre in die Zukunft, in der in einer Fernsehsendung von Ausgrabungen auf dem Gelände der früheren Nickel Academy zu hören ist, von Massengräbern, Folter und Mord.
All das wird jedoch in der eigentlichen Geschichte von Elwood und Turner weitgehend ausgeblendet. Man sieht, dass Elwood schlecht behandelt und zumindest einmal geschlagen wird, dass Gewalt und Diskriminierung auf der Tagesordnung sind, aber die schrecklichen Verbrechen, die sich dort zugetragen haben sollen, bleiben im Dunkel der Geschichte. Hin und wieder gibt es eine vage Andeutung, aber mehr auch nicht.
Man fragt sich, was Ross damit beabsichtigt. Wenn es um die Verbrechen gehen soll, die damals dort verübt wurden, wäre es da nicht sinnvoller, diese auch zu zeigen? Oder zumindest ansatzweise erfahrbar zu machen? Selbst ohne explizite Gewaltdarstellungen hätte man diese Aspekte in die Handlung einbinden können, sogar müssen. Stattdessen erzählt der Regisseur vom eintönigen Alltag der Jungen in einem ungeheuer einschläfernden Tempo und ohne erkennbare Leidenschaft.
Viele Handlungsstränge verlaufen zudem ins Leere, so erwähnt Elwood beispielsweise, dass ein Anwalt sich für ihn einsetzt, nur um später zu erfahren, dass dieser mit dem Geld seiner Großmutter abgehauen ist. Dass Elwood dennoch lange an seinem Idealismus festhält, ist das einzige Bemerkenswerte an dieser Figur. Dagegen ist Turner von Beginn an zynisch und verbittert. Beide sind aber relativ statische Figuren.
Erst in den letzten Minuten kommt tatsächlich noch ein Hauch von Spannung auf, aber selbst dieser dramatische Höhepunkt fällt weitgehend der subjektiven Kamera und ihren arg eingeschränkten Möglichkeiten zum Opfer. Die Nickel Boys erzählt eine an sich zwar gute, packende Geschichte, die aber nie ihre emotionale Wucht entfalten kann und scheitert zuletzt an den bemühten künstlerischen Ambitionen seines Regisseurs. Gut gemeint ist eben noch lange nicht gut gemacht.
Wer auf Hardcore-Arthaus-Produktionen steht und sich für schwarze, amerikanische Geschichte interessiert, wird dem Stoff vielleicht etwas abgewinnen können, aber grundsätzlich ist der Roman wohl dem Film vorzuziehen. Wahrscheinlich um Längen.
Note: 5+