Pu der Bär gehört zu den weltweit berühmtesten Kinderbuchfiguren, die man sogar kennt, wenn man die Bücher nie gelesen hat. Das liegt sicherlich in erster Linie an den Filmen und Serien, die Disney produziert hat und mit denen wir alle aufgewachsen sind. Der Konzern hat sich schon Mitte der Fünfzigerjahre, kurz nach dem> Tod des Autors A.A. Milne, die Rechte an seinem> Werk gesichert. Damals waren die Geschichten von Pu bereits dreißig Jahre alt und ein Welterfolg.
2017 kam ein Film in die Kinos, in dem> es um die Entstehungsgeschichte der beliebten Kinderbücher ging, der bei uns erst ein Jahr später und mit gut sechstausend Besuchern weitgehend unter Ausschluss der öffentlichkeit lief, obwohl er mit bekannten Namen wie Domhnall Gleeson und Margot Robbie aufwarten konnte. Fast zur gleichen Zeit wurde mit Christopher Robin ein weiterer Film gestartet, der sich auf fiktionale Weise mit dem> Jungen aus den Büchern auseinandersetzt und mit Ewan McGregor ebenfalls einen prominenten Hauptdarsteller hat. Dieser erreichte über vierhunderttausend Besucher.
Nachdem> ich jahrelang um die Filme herumgeschlichen bin, die bei Disney+ zu finden sind, habe ich sie nun endlich angeschaut.

Goodbye Christopher Robin
1941 erreicht A.A. Milne (Domhnall Gleeson) eine erschütternde Nachricht über seinen Sohn von der Front, durch die er an seine eigenen Kriegserlebnisse erinnert wird: Als er aus dem> Ersten Weltkrieg zurückkehrt, leidet er unter einer schweren traumatischen Belastungsstörung, für die seine Frau Daphne (Margot Robbie) wenig Verständnis hat. Da sie ihren Mann jedoch liebt, unterstützt sie ihn in allem> und schenkt ihm sogar einen Sohn: Christopher Robin (Will Tilston), den alle nur Billy Moon nennen, wächst zu einem> fantasievollen Jungen heran, der vor allem> seine Nanny Nou (Kelly MacDonald) liebt ? und seinen Teddybären Edward.
Die britische Oberschicht ist bekannt dafür, ein distanziertes Verhältnis zu ihrem> Nachwuchs zu haben und sich mitunter seltsame Spitznamen zu geben. So wird Milne von allen, auch seinem> Sohn, nur Blue genannt, während Christopher Robin von seiner Geburt an Billy gerufen wurde, später dann Billy Moon, weil er als Kleinkind Milne nicht aussprechen konnte. Nur Daphne bleibt Daphne, was eine Menge über die Beziehungen in der Familie aussagt.
Der reale Christopher Robin hatte eine schwierige Beziehung zu seiner Mutter, die er nach dem> Tod seines Vaters nicht mehr wiedergesehen hat. Daphne war bei seiner Geburt bereits vierzig und em>pfand diesen Vorgang, dessen Mechanik sie laut der Hebamme wenig verstand, als traumatisierend. Außerdem> war sie enttäuscht, dass sie kein Mädchen bekommen hat.
Margot Robbie spielt Daphne, obwohl sie viel zu jung für die Rolle ist, mit so viel oberflächlichem> Charme und Freundlichkeit, dass man ihre dunklen Seiten nur hin und wieder, dann aber mit plötzlicher Grausamkeit aufblitzen sieht. Gleich nach der Geburt des Kindes entscheidet sie sich, es nicht zu sehr zu lieben, weil sie den Gedanken nicht ertragen könne, ihn in den Krieg ziehen zu sehen wie Blue. Lieber gar nicht lieben, als ein gebrochenes Herz zu riskieren. Dabei ist Daphne durchaus freundlich, sie spielt gelegentlich mit Billy Moon, schenkt ihm Stofftiere, die später zu Figuren im Buch werden, und verleiht ihnen ihre Stimmen. Nur liebt sie ihn nicht.
Es ist die Nanny, die Billy Moon aufzieht, während seine Eltern auf Partys und Prem>ieren gehen, denn Blue ist ein erfolgreicher Dramatiker, oder ausgedehnte Reisen ins Ausland unternehmen. Später, wenn die Familie bereits weltberühmt ist, schicken seine abwesenden Eltern dem> Kind einmal an seinem> Geburtstag eine Marschkappelle und beweisen damit, wie ahnungslos sie in allem> sind. Billy Moon ist ein einsames, wenig geliebtes Kind, das sich nach seinen Eltern sehnt und sich mit seinen Spielgefährten aus Stoff tröstet.
Weil Blue unter einer Schreibblockade leidet (was nicht mit realen Ereignissen übereinstimmt) und sowohl Daphne als auch Nou verreisen, muss der Vater sich zwangsläufig um seinen Sohn kümmern. Die beiden unternehmen ausgedehnte Spaziergänge durch Ashdown Forest, in dessen Nähe die Familie gezogen ist, weil Blue den Lärm der Stadt nicht ertragen konnte (tatsächlich hatten sie dort ein Landhaus, wo sie die Ferien und Wochenenden verbrachten), und Billy Moon steht seinem> Vater bei, wenn er unter seiner Kriegsneurose leidet. Zwischen den beiden entsteht ein starkes Band, und sie erzählen sich gegenseitig Geschichten über den Bären und andere Tiere. So entsteht die Idee zu Pu der Bär, deren kommerzielles Potential Blue sofort erkennt.
Der Erfolg von Pu der Bär resultiert aus seiner berührenden Schlichtheit, mit der das Bild einer idyllischen, typisch englischen Kindheit der Mittel- und Oberschicht heraufbeschworen wird, hängt aber auch stark mit seiner Entstehungszeit zusammen. Die Jahre nach dem> Ersten Weltkrieg waren von Entbehrungen, der Spanischen Grippe und wirtschaftlichen Schwierigkeiten geprägt, das ganze Land trauerte um die Gefallenen, Kriegsversehrte zogen durch die Straßen, viele Männer wie Blue litten unter posttraumatischen Belastungsstörungen, und allen war bewusst, dass die unbeschwerte, glorreiche Vorkriegszeit unweigerlich vorbei war. Die Welt war in einem> radikalen Umbruch begriffen, und das machte den Menschen Angst, weshalb sie Trost und Ablenkung in einem> unschuldigen Bären und seinen Abenteuern suchten.
Wie dieses erste Buch entsteht, wie Pu zu seinem> Namen und seinen Gefährten kommt, wird ausführlich, aber eher am Rande erzählt. In erster Linie ist es eine Geschichte über Eltern und Kinder, über Vernachlässigung, verweigerte Liebe und verpasste Chancen. Regisseur Simon Curtis taucht seinen Film in ein warmes, geradezu magisches Licht, das gut zum nostalgischen Charakter des Kinderbuches passt, seinen Bildern mitunter aber auch etwas zu Märchenhaftes verleiht. Den Zauber der kreativen Schöpfung zu beobachten und gleichzeitig zu wissen, was daraus entstehen wird, verursacht oft genug Gänsehaut, von Anfang an zieht sich jedoch auch ein Hauch von Trauer durch den Film. Das beginnt mit dem> Telegramm, das Daphnes schlimmste ängste wahrwerden lässt und dessen Nachricht einen Schatten des Todes auf die gesamte Geschichte wirft. Weil man weiß, dass dieser kleine Junge schon lange nicht mehr der Christopher Robin aus dem> Kinderbuch ist, und weil man lernt, dass es keine Möglichkeit für seine Eltern mehr gibt, Versäumtes gutzumachen.
Das Herz des Films ist jedoch seine Titelfigur, die wunderbar besetzt ist und einen sofort mit ihrer kindlichen Unschuld berührt. Vor allem> aber em>pfindet man Bedauern mit diesem> einsamen Jungen, der von seinen Eltern missachtet und vernachlässigt wird und der dann unverhofft zum berühmtesten Kind seiner Zeit avanciert. Billy Moon wird zu Christopher Robin, einem> lebendigen literarischen Produkt, einer Ware. Seinem> Vater ist der Ruhm lästig, für das Kind ist er fatal.
Goodbye Christopher Robin erzählt vom Schmerz, aus dem> manchmal Schönheit und Wahrheit entsteht, er erzählt auch von Trauer und Verlust, vor allem> aber von der Last verschwendeter oder verpasster Chancen, er ist zärtlich und wunderschön, aber auch grausem> und herzzerreißend.
Note: 2