Als Sieben in die Kinos kam, war allen klar, dass dies ein wegweisender und stilbildender Thriller sein würde, ein moderner Klassiker der Filmgeschichte. Ich war damals ein junger Filmstudent und wie alle anderen begeistert von Finchers Regie, allerdings nicht vom Ende des Films. 1995 war eine aufregende Zeit, die Grenzen des Kinos und des filmischen Erzählens wurden ständig verschoben, CGI steckte zwar noch in den Kinderschuhen, lieferte aber immer spektakulärere Ergebnisse, und ein Klassiker nach dem anderen erblickte das Licht der Leinwand.
Trotz seines heutigen Rufs und seiner Stellung in der Filmgeschichte wurde Sieben bei den Preisverleihungen damals weitgehend ignoriert. Bei den Oscars war Fincher nicht einmal für die beste Regie nominiert, der Film nicht als bester Film. Die einzige Nominierung erhielt er für den besten Schnitt. 1995 war zwar ein starkes Jahr, aber bei den Oscars dominierten dennoch, wie damals häufig, nur sehr wenige Filme: Braveheart, Apollo 13, Ein Schweinchen namens Babe, Sinn und Sinnlichkeit und Il Postino erhielten jeweils fünf oder mehr Nominierungen. Es war aber auch das Jahr von Die üblichen Verdächtigen und 12 Monkeys, die in direkter Konkurrenz zu Sieben standen.
Nebenbei: 1995 erschien auch Toy Story und damit der erste, rein computeranimierte Film der Geschichte, es war aber auch das Jahr von Jumanji, Waterworld, Während du schliefst, Get Shorty, Die Brücken am Fluss, Heat, Bad Boys, Casino und vielen anderen. Wie gesagt, es war ein gutes Jahr.
Da Sieben weitgehend bekannt ist, werde ich spoilern – falls es jemanden geben sollte, der den Film tatsächlich noch nicht gesehen hat.

Sieben
William Somerset (Morgan Freeman) hat noch sieben Tage bis zu seiner Pensionierung als Mordermittler in Manhattan. Sein Nachfolger, David Mills (Brad Pitt), stellt sich bereits vor – und macht sich mit seiner lauten, arroganten Art auf Anhieb unbeliebt. Ihr erster Fall ist der eines fettleibigen Mannes, der gefesselt und gefoltert wurde: Der Täter hat ihn so lange gezwungen zu essen, bis er innere Blutungen davongetragen hat. Für Somerset ist klar, dass sie es hier mit einem Serientäter zu tun haben und dies bloß der Anfang ist, aber erst mit dem zweiten Mord, an einem prominenten Anwalt, erkennen sie die Zusammenhänge: Der Mörder bestraft seine Opfer für die von ihnen begangenen Todsünden.
Serienmörder waren damals noch ein relativ neuer Typus von Bösewichtern im Film und vor allem seit Das Schweigen der Lämmer dem breiten Publikum bekannt. Auch das Drehbuch von Andrew Kevin Walker beschwört diesen psychisch gestörten, aber auf eine morbide Art faszinierenden Bösewicht herauf, der zuvor Anthony Hopkins zu Weltruhm verholfen hat. Der Mörder in Sieben tritt erst spät in Erscheinung, spielt aber mit den Ermittlern ein gekonntes Katz-und-Maus-Spiel, indem er an den Tatorten Hinweise hinterlässt, mit denen er auf die nächste Tat und seine Motive verweist. Er zwingt die Detectives somit, sich mit seinen kruden Gedankengängen auseinanderzusetzen und seine Sicht auf die Welt zu übernehmen, und sei es für ein Gedankenexperiment. Das Profiling spielt allerdings kaum eine Rolle, Somerset versucht vor allem, die Quellen der Inspiration aufzuspüren, und treibt sich dafür eine Nacht lang in einer Bibliothek herum.
Bei einer heutigen Sichtung fallen einem vor allem diese Details auf: Man recherchierte tatsächlich noch vor Ort in altehrwürdigen Einrichtungen und nicht am Computer. Letztere waren monströse, laute Kästen, die ewig gebraucht haben, um Informationen auszuspucken. Und auch die Forensik steckte scheinbar noch in den Kinderschuhen, tragen die Ermittler bestenfalls Handschuhe und manchmal nicht einmal die. Dieser nostalgische Blick macht allerdings den Charme aus, verdeutlicht aber auch, wie sehr sich unsere Welt inzwischen verändert hat.
Im Kern ist Sieben eine typische Ermittlergeschichte, eine Mörderjagd gegen die Zeit, denn von Anfang an wird eine Timeline gesetzt, werden die Sequenzen in Tage unterteilt. Schon vom ersten Bild an läuft der Countdown, was für Spannung sorgt. Die Ermittlungen selbst sind eher banal, aber schon bald kommt es zur ersten Konfrontation mit dem Killer, dem die Polizisten durch eine geheime FBI-Datei auf die Spur kommen, die man nur als schlampigen Drehbucheinfall bewerten kann. Der Erfolg ist nicht der Lohn harter Detektivarbeit, sondern wird auf dem Silbertablett präsentiert. Auch später schleichen sich einige Patzer ein, so erfährt man in der Wohnung des Killers zwar, auf wen er es in den nächsten beiden Morden abgesehen hat, aber über die letzten beiden geplanten Taten nichts. Diese spielen freilich keine Rolle, weil der Mörder zur Improvisation gezwungen wird, hätten aber erwähnt werden sollen und dadurch sicherlich für noch mehr Spannung oder falsche Fährten gesorgt. Auch werden die letzten gezeigten Taten etwas zu schnell abgehandelt.
So ganz überzeugend sind die gewählten Opfer für die Todsünden ebenfalls nicht, aber darüber hat man während des Films ohnehin keine Zeit nachzudenken. Ebenso wenig überzeugend ist das Ende, mit dem ich immer noch hadere. Der Mörder erliegt zwar selbst dem Neid (was schon nicht ganz glaubwürdig ist), tötet aber dann eine Unschuldige und durchbricht damit seinen Modus Operandi und ein weiteres Mal in der Auseinandersetzung mit Mills. Auch das erschien mir noch nie glaubwürdig, und daran hat sich nichts geändert, es ärgert mich allerdings nicht.
Sieben ist, auch dreißig Jahre später, immer noch ein großartiger Film. Er lebt vor allem von David Finchers genialer Regie und seinem Stilwillen. Allein der Sound ist bemerkenswert, diese allgegenwärtige Kakophonie New Yorks, die wie ein Ozean des Wahnsinns die Insel umspült und die Menschen aggressiv macht. Bemerkenswert ist auch die düstere Atmosphäre, das Gefühl von Ausweglosigkeit und Pessimismus, die zwar nicht so ganz zur damaligen Zeit und dem sich wandelnden Image New Yorks passen, aber beim Zuschauen unter die Haut kriechen. Sieben ist eine lange Reise aus der Dunkelheit der Welt in die Finsternis der menschlichen Seele. Während die Stadt anfangs im Regen ertrinkt, mit der Zeit aber immer heller wird, verliert man wie Somerset als Zuschauer immer mehr den Glauben an die Menschheit.
Brad Pitt mag als aufbrausender Mills vielleicht die Szenen dominieren, es ist aber in erster Linie der Film des stillen Somerset, der sich zunächst mit der Gewalt, dem Elend und der Hässlichkeit der Welt abgefunden hat, der abgestumpft und gleichgültig wirkt, aber am Ende kann er sich aus seiner Resignation lösen und wieder für das Gute kämpfen, und das verleiht dem Film am Ende einen kleinen Hoffnungsschimmer.
Note: 2+