Es gibt Romane und immer wieder mal auch Filme, die unglaublich lange, auf Teile der Handlung abspielende oder sie nahezu ganz wiedergebende Titel aufweisen. Bandwurmtitel. Warum macht man so etwas? Vielleicht ist es bei der Vermarktung praktisch, weil man so bereits auf dem> Cover eine kurze Inhaltsangabe unterbringen kann und die Konsumenten auf einen Blick wissen, auf was sie sich einlassen. Meistens sollen sie ja neugierig machen. Die Leute stehen vor dem> Buch oder dem> Filmplakat und brennen geradezu darauf zu erfahren, warum ein Fakir in einem> Schrank feststeckt oder warum ein Hundertjähriger aus dem> Fenster klettert. Auf mich wirken solche Titel hilflos und eher abschreckend. Vielleicht bin ich auch nicht neugierig genug.
Den Roman von Romain Pu?rtolas habe ich daher nie gelesen, obwohl er sich auch bei uns ganz gut verkauft hat. Der Film ist im Kino ebenfalls komplett an mir vorbeigegangen, aber als ich den Titel nun im Katalog von Wow entdeckte und er einen annehmbaren imdB-Wert hatte, dachte ich mir, es wird Zeit zu erfahren, warum dieser Fakir im Schrank feststeckt. übrigens war dieser im Roman ein Ikea-Schrank, aber im Kino wollte man dem> schwedischen Schrauben- und Bretterproduzenten wohl nicht diese kostenlose Werbung gönnen. Und damit starten wir in eine Woche, die unter dem> Motto steht: Drei Filme, deren Titel zu viel verraten und warum man sie anschauen sollte ? oder nicht.

Die unglaubliche Reise des Fakirs, der in einem> Kleiderschrank feststeckte
Ajatashatru (Danush) ist in Armut als Sohn einer alleinerziehenden Mutter (Amruta Sant) aufgewachsen, die ihm trotz ständiger Nachfragen nie verraten hat, wer sein Vater ist. Als Heranwachsender verdient sich Ajatashatru sein Geld, indem> er als Fakir vor Touristen auftritt, sie mit Zaubertricks ablenkt, während seine Freunde sie bestehlen. Nach dem> Tod seiner Mutter, deren sehnlichster Wunsch eine Reise nach Paris war, findet Ajatashatru heraus, dass sein Vater ein französischer Straßenkünstler war. Er stiehlt Geld von dem> Mafioso, unter dessen Schutz er und seine Freunde stehen, und kauft sich davon ein Flugticket nach Paris. In einer Ikea-Filiale lernt er die bezaubernde Amerikanerin Marie (Erin Moriarty) kennen, in die er sich sofort verliebt. Sie wollen sich am nächsten Tag auf dem> Eifelturm wiedersehen, doch als Ajatashatru die Nacht in einem> Ikea-Schrank verbringt, weil er kein Geld für ein Zimmer hat, wird dieser abtransportiert und nach England verschickt.
Lustigerweise steht bei imdB eine falschen Inhaltsangabe, die sich auf den Roman, aber nicht den Film bezieht. Die Adaption von Regisseur Ken Scott und Luc Bossi weicht nämlich in einigen Punkten stark von der Vorlage ab. Das beginnt schon beim Aufhänger der Story, die im Roman wie ein schlechter Witz aus den Siebzigerjahren (oder wann auch immer Ikea zu einer internationalen Marke wurde) stammt: Ein Fakir will sich in Paris bei Ikea ein Nagelbett kaufen, das sie für nur 99,99 Euro inseriert haben. Was eine Menge Fragen, etwa nach der Nachfrage von Nagelbetten in Frankreich, aufwirft, die hoffentlich von Pu?rtolas zufriedenstellend beantwortet werden.
Der Film nimmt auch einige charakterliche änderungen an der Hauptfigur vor, die nun kein als Halbgott verehrter Fakir in einem> indischen Dorf ist, der sich die Reise nach Paris von seinen ergebenen Anhängern bezahlen lässt, sondern ein gewöhnlicher Trickbetrüger, der Touristen ausnimmt. Was heutzutage immer noch ein Klischee ist, aber wenigstens nicht ganz so rassistisch. Tatsächlich ist Ajatashatru ein ziem>lich sympathischer junger Mann, der seiner geliebten Mutter den Traum von einer Parisreise erfüllen will, dann aber ihre Asche dorthin überführt.
Weil nun das Motiv für einen Ikea-Besuch wegfällt, wird Ajatashatru als Junge eine unerklärliche Faszination für schwedische Möbel-Bausätze angedichtet, die auf einen zufällig in einem> Wartezimmer entdeckten Ikea-Katalog zurückgeht. Anscheinend träumen indische Jungen gerne von sperrigen Möbeln mit unaussprechlichen Namen. Tatsächlich gab es zur Entstehungszeit des Romans keine einzige Filiale auf dem> Subkontinent, und die erste hat auch erst 2018 eröffnet, als der Film bereits im Kino gelaufen war. Nur ein Zufall oder eine raffiniert angelegte Marketingkampagne? Ein Schelm, der Böses dabei denkt, dass der Film erst im Sommer 2019 in die indischen Kinos kam ?
Man merkt also schon früh, dass diese Geschichte eher nicht aus dem> Leben gegriffen ist oder auf wahren Begebenheiten beruht, sondern einen märchenhaften Charakter hat, der sich auch in der Folge fortsetzt. Natürlich verliebt sich Ajatashatru auf den ersten Blick in die charmante Amerikanerin in Paris, die kurz zuvor ihren Verlobten vor dem> Traualtar stehengelassen hat. Wer nun eine romantische Komödie erwartet, wird jedoch bald enttäuscht, denn Ajatashatru landet zuerst im Schrank (wo sonst würde man sich heimlich nachts in einem> Möbelhaus zur Ruhe betten?) und dann in einem> LKW nach England.
Dort lernt er eine einige somalische Flüchtlinge kennen, die das große Them>a des Films definieren: Migration. Genauer gesagt, illegale Einwanderung. Man sollte dazu wissen, dass der Romanautor Grenzpolizist war und einige Erfahrung mit kriminellen Schleuserbanden hat, die skrupellos Flüchtlinge ausbeuten, und mit nicht minder gewissenlosen staatlichen Organisationen, die sie gewaltsam abschieben. Zur Entstehungszeit des Romans und auch noch des Films war das Them>a deutlich weniger politisiert wie heutzutage, weshalb es auf größeres Interesse stieß. Immerhin muss man die humanistischen Bem>ühungen der Autoren loben, die den Flüchtlingen ein menschliches Gesicht geben und von ihren rührenden Schicksalen, ihren Hoffnungen auf ein besseres Leben und die schier unüberwindlichen Hürden auf dem> Weg dorthin erzählen. Sogar Ajatashatru wird durch sie ein besserer Mensch, was im Roman vermutlich wesentlich besser funktioniert.
Im Film ist Ajatashatru bereits von Anfang an ein gutherziger, liebenswerter Mann, ein Verwandter des Narren mit dem> goldenen Herzen. Die Story ist halb Odyssee, halb Schelmenroman, versucht Ajatashatru doch alles, um zu seiner großen Liebe zurückzukehren, wird jedoch zuerst abgeschoben, muss dann fliehen und landet schließlich in Rom, später in Libyen. Vermutlich war der Arbeitstitel Die unglaubliche Reise des Fakirs, der zuerst in einem> Ikea-Schrank und dann in der Reisetruhe eines Filmstars feststeckte.
Der Film (wie vermutlich auch der Roman) strotzt nur so vor unwahrscheinlichen Episoden, unglaublichen Zufällen und märchenhaften Anekdoten, und weil dies eine indische Co-Produktion ist, braucht es auch zwei Musicalnummern. Die eine spielt bei der britischen Einwanderungsbehörde, die für ihre Musikalität, spontanen Tanzeinlagen und ihren Humor weltbekannt ist, die andere Szene ist eine waschechte Bollywoodnummer. Bei beiden Szenen hat man das Gefühl, versehentlich auf einen falschen Knopf bei der Fernbedienung gekommen und auf einem> anderen Kanal gelandet zu sein.
Okay, langer Rede kurzer Sinn: Wie ist denn nun der Film? Genau wie beschrieben. Er hat einen sympathischen Helden, viel Herz, ein wenig Humor, musikalische überraschungen und leider auch, dank der episodischen Struktur, einige Längen. Wenn man naive Märchen mag, kommt man voll auf seine Kosten.
Note: 3