A Quiet Passion ? Das Leben der Emily Dickinson

Der Film befand sich längere Zeit auf meiner endlos langen Watchlist, obwohl ich sonst keinem> interessanten historischen Drama widerstehen kann. In diesem> Fall war der imdB-Wert nicht so überzeugend und auch das Sujet nicht übermäßig verlockend, um mich zu reizen. Natürlich habe ich nichts gegen Emily Dickinson, ich habe noch nicht einmal ihre Gedichte gelesen (für Poesie fehlt mir meist leider schlichtweg die Zeit und vor allem> die Geduld), aber wie spannend kann ein Film über eine Frau sein, die ihr gesamtes Leben an einem> einzigen Ort, meistens sogar in ihrem> Zimmer, verbracht hat?

Letzten Endes war es jedoch genau dieser Aspekt, der mich neugierig gem>acht hat. Das Leben in der Nussschale und so. Und vielleicht erfahre ich ja auf diese Weise etwas mehr über das Werk dieser bem>erkenswerten Dichterin. Die Apple-Serie Dickinson habe ich bislang übrigens gem>ieden, weil sie mir zu modern, zu schrill erschien, aber vielleicht wäre sie dem>nächst eine gute Ergänzung.

A Quiet Passion ? Das Leben der Emily Dickinson

In einem> streng christlichen Frauensem>inar, in dem> sie ihre Ausbildung abschließen will, fällt die achtzehnjährige Emily (Emma Bell) unangenehm bei der Leiterin auf, weil sie sich weigert, ihre Sünden zu bekennen und den Weg zur Erlösung zu beschreiten. Emily ist der Meinung, zu jung und unerfahren zu sein, um wirklich gesündigt zu haben, ein Affront, der am Ende dazu führt, dass sie ihre Ausbildung abbricht und zu ihrer Familie zurückkehrt. Dort ist sie ohnehin am liebsten, und sie wird ihr Zuhause nie wieder verlassen.

Jahre später veröffentlicht Emily (Cynthia Nixon) ein paar ihrer Gedichte und führt weiterhin ein zurückgezogenes Leben mit ihren Eltern (Keith Carradine und Joanna Bacon) sowie ihrer Schwester Vinnie (Jennifer Ehle) und ihrem> Bruder Austin (Duncan Duff), der ihre Jugendfreundin Susan (Jodhi May) heiratet. Kurz em>pfindet Emily eine heftige Zuneigung zu einem> verheirateten Pfarrer, und auch die unkonventionelle, scharfzüngige Vryling (Catherine Bailey) ist eine enge Freundin, ihre Leidenschaft gilt jedoch der Poesie.

Man sieht bereits anhand dieser Inhaltsangabe, dass in dem> Film nicht wirklich etwas passiert. Selbst der amerikanische Bürgerkrieg findet nur in weiter Ferne statt und scheint kaum eine Auswirkung auf das alltägliche Leben der Familie gehabt zu haben, abgesehen von einem> Streit zwischen Austin, der kämpfen will, und seinem> Vater, der ihn von der Armee freikauft. Emily lebte von 1830 bis 1886 und war Zeugin großer gesellschaftlicher und technischer Umwälzungen, aber ihr Leben blieb klein und beschaulich und von all dem> scheinbar unberührt.

Tatsächlich war sie jedoch eine genaue Beobachterin der Natur und der Menschen, die ein umfangreiches Werk hinterlassen hat, in dem> sie sich mit vielen Aspekten des Lebens auseinandergesetzt hat, vor allem> mit Entsagung, Tod und der Unsterblichkeit der Seele. Sie sprach sich gegen die Sklaverei aus sowie gegen gesellschaftliche Heuchelei und Intoleranz, und sie kämpfte leidenschaftlich für die Rechte der Frauen. Der Film behandelt all dies und folgt dabei streng der Chronologie der Jahre, schiebt aber die familiären Ereignisse wie Hochzeiten, Geburten und Todesfälle eher in den Hintergrund. In erster Linie geht es um Emilys Werk, die Quellen ihrer Inspiration und ihren Charakter.

Das klingt mühsam und ist es bisweilen auch, es hört sich eintönig und sogar langweilig an, und auch wenn die Handlung mitunter monoton ist, langweilig ist der Film keine Sekunde lang. Sowohl Emma Bell als auch Cynthia Nixon spielen Emily mit einer Kraft und Leidenschaft, die beeindruckend sind, und so entsteht das facettenreiche Porträt einer außergewöhnlichen Künstlerin.

Als junge Frau ist Emily voller mutiger Ideen und Hoffnungen auf ein spannendes Leben, sie hat Träume, die sie jedoch nicht recht benennen kann, sehnt sich nach Freiheit und Autonomie. Je älter sie wird, desto mehr zieht sie sich zurück, ihre Familie ist ihr, trotz mancher Defizite und Differenzen, genug, weil sie Angst vor Enttäuschung und Zurückweisung durch andere Menschen hat. Am Ende ist sie jedoch mutlos, verbittert und einsam, sie leidet an einer schmerzhaften Nierenerkrankung, erlebt Verluste und weiß, dass ihr niem>als Anerkennung widerfahren wird. Nur eine Handvoll ihrer Gedichte werden zu ihren Lebzeiten veröffentlicht, ihr Stil, der für die damalige Zeit erstaunlich modern ist, wird verkannt. Auf posthumen Ruhm kann sie verzichten, weshalb sie später Vinnie anweist, ihr Werk zu vernichten.

Dieser Aspekt taucht übrigens nicht im Film auf, ebenso wie einige andere, bem>erkenswerte Elem>ente aus Emilys Leben. So wird beispielsweise ihre Beziehung zu Susan kaum them>atisiert, sie scheint nur eine Freundin zu sein, die später ihre Schwägerin wird, und man lernt sie erst kennen, nachdem> Austin sie geheiratet hat. Tatsächlich gehen manche Wissenschaftler davon aus, dass es zwischen den beiden Frauen eine romantische Beziehung gegeben hat, worauf wohl auch die Serie Dickinson anspielt. Warum hat Regisseur und Drehbuchautor Terrence Davies ausgerechnet diesen Teil der Biografie unterschlagen? Vielleicht weil er nicht eindeutig belegt ist? Weil er sich stärker auf Emilys Werk konzentrieren wollte? Oder weil er, wie er in einem> Interview einmal sagte, große Problem>e hat, seine eigene Homosexualität zu akzeptieren, die sein Leben angeblich ruiniert hat. Man versteht es nicht.

Letzten Endes ist es Davies‘ Interpretation von Emily Dickinsons Leben, das er in satten, aber düsteren Farben malt. Er lässt sie verzweifeln an einer Welt, die sie ablehnt, weil sie eine Frau ist, die ihre Kunst nicht versteht, die aber einen scharfen Verstand und eine breit gefächerte Bildung besitzt und somit in der Lage ist, das zu erkennen und zu wissen, was ihr vorenthalten wird. All das ist vermutlich richtig, zeigt aber sicherlich nur einen kleinen Ausschnitt aus dem> wahren Leben dieser Frau, und letzten Endes beschleicht einen das Gefühl, dass Davies hier mehr über sich erzählt als über Dickinson.

Einen wichtigen Teil der Handlung machen Emilys Gedichte aus, die ganz oder in Teilen zitiert werden und den Film wie ein Off-Kommentar begleiten. Durch sie lernt man die Dichterin ebenso gut kennen wie durch ihre Beziehungen und ihre Aussagen. Die Dialoge passen sich dem> Sprachduktus an, sie sind komplex, eloquent und scharfsinnig ? wie Emily selbst. Manche Szenen bestehen aus einem> Feuerwerk aus Aphorismen und Spitzzüngigkeiten, das gleichzeitig opulent und überfordernd ist. Man kann gar nicht alles aufnehmen, hat Mühe, den vielfältigen Assoziationen zu folgen, vor allem>, wenn es in den Gesprächen um Theologie oder Philosophie geht. Das macht den Film bisweilen anstrengend, aber auch lohnend. In der Summe ist es jedoch etwas zu viel. Ein wenig mehr Ruhe und Kontem>plation wären angebracht gewesen, insbesondere bei diesem> Titel.

A Quiet Passion ? Das Leben der Emily Dickinson ist kein einfach zu konsumierender Film, er ist fordernd und anstrengend, ein wenig trocken und bisweilen deprimierend, aber auch voller herrlicher Dialoge und Poesie. Man bekommt Lust, ihr Werk zu entdecken, und wenn dies das Einzige ist, was vom Film bleibt, ist das schon eine Menge. Aber da ist noch mehr: Eine wunderbare Kamera, schöne Musik und superbe Schauspieler. Und wenn man ein umfassenderes, lebensbejahenderes und positiveres Bild von Emily Dickinson erhalten möchte, sollte man sich vielleicht zusätzlich noch die Serie anschauen. So werde ich es wohl halten. Wenn ich mal Zeit habe.

Note: 3

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.