Tully

Gestresste Mütter und Väter wissen: Manchmal muss es schnell gehen. Da bleibt keine Zeit für Schnickschnack und Extravaganzen, da kommt die Tiefkühlpizza auf den Tisch und werden keine Widerworte geduldet. Ich stecke auch bis zum Hals (und eigentlich schon darüber hinaus) in Arbeit, weshalb ich auf eine längere Einleitung verzichte und gleich zum Film komme:

Tully

Marlo (Charlize Theron) und ihr Mann Drew (Ron Livingston) haben bereits zwei Kinder, darunter einen Sohn mit Verhaltensauffälligkeiten und autistischen Tendenzen, und erwarten erneut Nachwuchs. Nachdem sie nach der letzten Geburt unter Wochenbettdepressionen gelitten hat, bietet ihr Bruder (Mark Duplass) ihr an, für sie eine Nacht-Nanny anzuheuern, aber davon will Marlo zunächst nichts wissen. Doch dann steht eines Abends die aufreizend gekleidete, aber sehr kompetent wirkende und äußerst sympathische Tully (Mackenzie Davis) vor der Tür. Sehr schnell wird sie für Marlo unentbehrlich, so dass sich das Leben der gestressten Mutter endlich zum Besseren wendet.

Drehbuchautorin Diablo Cody und Regisseur Jason Reitman haben uns vor einigen Jahren gemeinsam den wunderbaren Film Juno geschenkt, in der es um eine schwangere Teenagerin ging, die vor der Wahl stand, ihr Kind zu behalten oder zur Adoption freizugeben. Nun steht erneut die Mutterschaft im Mittelpunkt einer Geschichte, und wieder einmal wird hier nichts geschönt oder romantisch verklärt.

Marlo wirkt bereits mit zwei Kindern, von denen eines besondere Ansprüche stellt, völlig überfordert. Drew arbeitet hart, verdient das Geld, überlässt aber alles andere seiner Frau, die sich zunehmend im Sich gelassen fühlt. Das großzügige Angebot ihres Bruders empfindet sie als übergriffig, doch sehr schnell stellt sie fest, dass das Leben mit Tully viel entspannter ist. Die junge Frau macht die Wohnung sauber, versorgt das Baby und hat sogar noch Zeit, Cupcakes zu backen. Es ist, als hätte Marlo eine gute Fee zu Besuch – und das jede Nacht.

Und Tully scheint instinktiv zu wissen, was Marlo braucht, was ihr gerade guttut. Die beiden reden viel, entdecken zahlreiche Parallelen, und Marlo erkennt, dass sie selbst einmal genau wie Tully war, vor Drew, vor den Kindern, den endlosen Haushaltspflichten und der lästigen Mutterrolle. Obwohl sie glücklich ist, ihren Mann und ihre Kinder liebt, hat sie das Gefühl, auf der Strecke geblieben zu sein und nicht mehr zu wissen, wer sie selbst eigentlich ist. Wer ist Marlo, wenn sie nicht Ehefrau und Mutter ist?

Charlize Theron spielt die Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs so überzeugend und ungeschönt, mit schwabbeligem Bauch, Augenringen und entnervtem Blick, dass man sie von der ersten Minute an ins Herz schließt. Dagegen fallen alle anderen Figuren ab, vor allem der ohnehin stets etwas zu blasse Ron Livingston scheint hier gewissermaßen mit dem Hintergrund zu verschmelzen, was in dramaturgischer Hinsicht wohl beabsichtigt ist, der Geschichte aber eine Menge Konfliktpotential nimmt.

In erster Linie geht es natürlich um die beiden Frauen und wie Marlo zurück ins Leben jenseits der von der (amerikanischen) Gesellschaft allzu verklärten Mutterrolle findet. Das ist gut gespielt und endet mit einer überraschenden Wendung, die man als aufmerksamer Zuschauer jedoch recht bald kommen sieht. Das liegt vor allem daran, dass relativ wenig passiert. Die Geschichte plätschert auf unterhaltsame und stets interessante Weise dahin, hat aber wenige Höhepunkte und bindet überdies eine Symbolik ein, die sich nie erklärt. Beispielsweise warum Marlo von Meerjungfrauen träumt. Etwas mehr Juno, vor allem etwas mehr Humor hätte diesem durch und durch soliden und unterhaltsamen Film ebenfalls gutgetan.

Note: 3+

 

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.