Die seltsame Liebe der Martha Ivers

Wenn man ein bisschen sucht, findet man selbst auf Netflix oder – wie in diesem Fall – auf Prime Video einige alte Filme. Mit alt meine ich nicht die Der Herr der Ringe-Trilogie, die für heutige Teenager bereits antiquiert wirkt, sondern Filme, die vor 1950 produziert wurden. Leider laufen diese nicht mehr so häufig im Fernsehen wie noch vor einigen Jahrzehnten, auf DVD sind auch nur die bekanntesten erschienen, und die Streamingdienste … Ein Trauerspiel.

Ein klein wenig Hoffnung habe ich ja, dass Disney+ mit seiner neuen Sparte Star auch den einen oder anderen Klassiker (auch aus der zweiten oder dritten Reihe) neu auflegen wird, und auch HBOMax kann auf ein reich gefülltes Archiv zurückgreifen. Ansonsten fürchte ich, dass einige wunderbare Filme für das Publikum praktisch verloren sind.

Wie gesagt, mir ist es gelungen, einige alte Filmtitel zu entdecken, und neulich war ich in der Stimmung für einen Schwarz-Weiß-Klassiker, der bei uns nie im Kino, sondern erstmals 1989 im Fernsehen lief …

Die seltsame Liebe der Martha Ivers

Die halbwüchsige Martha (Janis Wilson) hasst ihre Tante (Judith Anderson) abgrundtief und plant, zusammen mit dem Herumtreiber Sam (Darryl Hickman) wegzulaufen. Doch Walter (Mickey Kuhn), der Sohn von Marthas Hauslehrer, vereitelt diesen Plan. Als Martha dann noch sieht, wie ihre Tante ihre geliebte Katze erschlägt, geht sie wütend dazwischen – und stößt die alte Dame die Treppe hinunter.

Achtzehn Jahre später kehrt Sam (Van Heflin) in die kleine Stadt zurück, in der Martha inzwischen das familieneigene Stahlwerk zu einem Konzern ausgebaut hat. Sie ist mit Walter (Kirk Douglas) verheiratet, mit dem sie aufgrund seines Wissens um den Tod ihrer Tante in Komplizenschaft verbunden ist und der gerade erneut als Bezirksstaatsanwalt kandidiert. Sam hat eigentlich nicht vor, seine alten Freunde aufzusuchen, doch dann verliebt er sich in Toni (Lizabeth Scott), die gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Als Toni wegen eines Verstoßes gegen ihre Bewährungsauflagen verhaftet wird, bittet Sam Walter und Martha um Hilfe. Doch Walter glaubt, dass Sam sie erpressen will, und Martha entdeckt, dass sie nach all den Jahren noch immer Gefühle für Sam hat …

Allein in der ersten Viertelstunde, die mit dem Tod der gemeinen Tante endet (eine Paraderolle für Judith Anderson, die vor allem als Mrs. Danvers in Hitchcocks Rebecca berühmt wurde), passiert beinahe mehr als in manchen heutigen Filmen. Drehbuchautor Robert Rossen, der eine Idee von John Patrick verarbeitet hat, legt sehr viel Wert auf eine ausgefeilte Beschreibung seiner Figuren und ihrer Motive. Wie ein Psychoanalytiker legt er Schicht um Schicht frei, offenbart Traumata, kindliche Verletzungen und emotionalen Missbrauch. Jede einzelne Figur ist beschädigt, ein Opfer ihrer Familie oder der Umstände.

Teilweise sind es typische Figuren des Film Noir, vor allem die Frauen lassen sich sehr gut in das bad good girl (Toni) und das good bad girl (Martha) einteilen, die wie zwei gegensätzliche Pole das Schicksal der Hauptfigur Sam beeinflussen. Während Toni, aus einfachen Verhältnissen stammend, stets ein Spielball dominanter Männer und eines patriarchalischen Systems war, weiß die privilegierte Martha sehr genau, wie sie ihre (wirtschaftliche) Macht zu ihrem Vorteil nutzen kann. Sie ist eiskalt, skrupellos und ohne jede Empathie, mit ihrem schwachen, alkoholkranken Mann in einer Hassliebe verbunden, die auf Täuschung und Mord basiert. So etwas kann kein gutes Ende nehmen.

Neben den komplexen Figuren kann auch die Geschichte mit einige interessanten Wendungen und tragischen Verstrickungen aufwarten, die sie nie langweilig wirken lassen. Für Zuschauer, die an die heutigen Erzählmuster Hollywoods gewöhnt sind, dürfte das anfangs vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig sein, doch dafür wird man mit einigen unvorhergesehenen Wendungen überrascht, die auch heute noch jedem Thriller Ehre machen würden. Sicher, nicht alle Handlungen sind psychologisch völlig stimmig, nicht alle Einfälle brillant, aber alles in allem ist dieser Film Noir stimmungsvoller und raffinierter als viele heutige Krimis.

Note: 2

Ostern steht bekanntlich vor der Tür, und auch wenn man in diesem Jahr wieder nicht wegfahren oder seine Familie besuchen kann (sollte), werde ich mir eine kleine Auszeit gönnen. Der nächste Beitrag erscheint am 12. April. Allen Lesern wünsche ich an dieser Stelle frohe Ostern – habt eine gute Zeit und passt auf euch auf!

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.