The Professor and the Madman

Der Mensch gewöhnt sich unglaublich schnell an Neues. Die Älteren unter uns können sich noch gut an eine Zeit ohne Smartphones und Internet erinnern, aber wer möchte sie heute noch missen? Die Vorstellung, nicht mehr vierundzwanzig Stunden am Tag an allen Orten der Welt auf das geballte Wissens des Internets zugreifen zu können, sorgt heute geradezu für Unbehagen.

Wer etwas wissen oder recherchieren will, geht ins Internet und googelt es (oder sieht sich ein YouTube-Video an). Davor musste man ein Buch zu Rate ziehen, ein Lexikon oder Nachschlagewerk. Aber wie sah eine Welt aus, in der es nicht einmal diese gab? Man mag es sich nicht einmal vorstellen.

Simon Winchester, ein amerikanisch-britischer Journalist und Autor hat 1998 The Surgeon of Crowthorne veröffentlicht, ein Sachbuch über die Entstehung des Oxford English Dictionary, das auf Deutsch Der Mann, der die Wörter liebte hieß. Ein hinreißendes, informatives, spannendes und höchst unterhaltsames Sachbuch, das 2019 schließlich verfilmt wurde, allerdings unter dem Titel, den das Werk in Nordamerika trägt.

The Professor and the Madman

1872 erschießt der amerikanische Bürgerkriegsveteran und Arzt Dr. Minor (Sean Penn) einen Mann in London, den er für seinen Verfolger hält. Im anschließenden Prozess wird deutlich, dass Minor sich diese Bedrohung nur eingebildet hat, und anstatt ihn zum Tode zu verurteilen, wird seine Verlegung in die psychiatrische Anstalt Broadmoor in Crawthorne veranlasst.

Nahezu gleichzeitig wird der schottische Autodidakt James Murray (Mel Gibson) zum Herausgeber des Oxford English Dictionary bestellt und verleiht dem seit vielen Jahren dahindümpelnden Projekt neuen Schwung, indem er Laien überall in der englischsprachigen Welt auffordert, Bücher zu lesen und ihm Belegstellen für verschiedene Wörter zu schicken, anhand derer er ihren Ursprung und ihre wandelnde Bedeutung nachvollziehen kann. Innerhalb der nächsten Jahre wird Minor einer von Murrays fleißigsten Helfern.

Zugegeben, die Beschreibung der Geschichte liest sich ein wenig trocken und akademisch, aber davon sollte man sich nicht täuschen lassen. Nach einem spannenden Anfang, der Minors Mord an einem unschuldigen Passanten zeigt, wandelt sich der Film rasch zu einem doppelten Bio-Pic, das voller Überraschungen steckt.

Beide Männer sind äußerst bemerkenswert: Minor leidet sehr unter seiner Schuld und kommt zu dem Schluss, dass er der Witwe seines Opfers, Eliza Merrett (Natalie Dormer), gewissermaßen sein Leben schuldet. Er bietet ihr seine Pension als Unterstützung an, die sie erst nach langem Zögern annimmt, weil die wirtschaftliche Not zu groß ist und sie nicht weiß, wie sie ihre Kinder durchbringen soll. Widerwillig besucht sie Minor in Broadmoor und erkennt, welch gequälte Seele sich in ihm verbirgt, und mit der Zeit entwickelt sich eine verwirrende Nähe zwischen ihnen. Eliza ist hin- und hergerissen zwischen der liebevollen Erinnerung an ihren Mann und ihrem Mitleid für Minor, aus dem schließlich Zuneigung erwächst. Minor hingegen hat Angst, dass er durch diese Nähe Elizas Mann ein zweites Mal töten würde – und unternimmt einen drastischen Schritt.

Regisseur Farhad Safinia, der zusammen mit Todd Komarnicki das Drehbuch schrieb, nimmt sich hier einige Freiheiten, die in Winchesters Buch in den Bereich des Möglichen, aber Unwahrscheinlichen verschoben werden. Als Diskurs über die Macht der menschlichen Psyche und die Kraft der Vergebung ist dieser Handlungsstrang dennoch faszinierend und zudem gut gespielt.

Gegen Minor muss ein James Murray zwangsläufig wie ein blasser Gelehrter erscheinen. Auch ihm wird eine Frau an die Seite gestellt, seine Ehefrau (Jennifer Ehle), der ein entscheidender Anteil an seinem Erfolg angedichtet wird, der vermutlich einzig und allein der Aufwertung der Rolle und der Dramaturgie geschuldet ist. Die halbgaren Kabalen in Oxford, der Widerstand der snobistischen Gelehrten, die Murray verachten, weil er die falsche Herkunft und vor allem keine klassische universitäre Ausbildung genossen hat, sind größtenteils Fiktion. Diese diversen Ausschmückungen und Übertreibungen, um der Geschichte mehr Dramatik zu verleihen, sind auch die gröbsten Fehler, die man dem Film vorwerfen kann. Schade ist zudem auch, dass viele der im Buch geschilderten exzentrischen Figuren im Film kaum eine Rolle spielen oder bei weitem nicht so faszinierend wirken wie in der Realität (obwohl der Cast zahlreiche namhafte Schauspieler aufweisen kann). Aber auch das ist der Reduktion auf einen Spielfilm geschuldet.

Alles in allem ist es eine bemerkenswerte, überraschende und ungewöhnliche Geschichte, die hier erzählt wird und – weitgehend – auf historischen Fakten beruht. Ein Muss für Fans historischer Stoffe und vielleicht eine Anregung, Winchesters Buch zu lesen, das um einiges besser ist als dieser Film. Zu entdecken bei Prime Video.

Note: 3+

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Über Pi Jay

Ein Mann des geschriebenen Wortes, der mit fünfzehn Jahren unbedingt eines werden wollte: Romanautor. Statt dessen arbeitete er einige Zeit bei einer Tageszeitung, bekam eine wöchentliche Serie - und suchte sich nach zwei Jahren einen neuen Job. Nach Umwegen in einem Kaltwalzwerk und dem Öffentlichen Dienst bewarb er sich erfolgreich an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Er drehte selbst einige Kurzfilme und schrieb die Bücher für ein halbes Dutzend weitere. Inzwischen arbeitet er als Drehbuchautor, Lektor und Dozent für Drehbuch und Dramaturgie - und hat bislang fünf Romane veröffentlicht.